Samstag, 2. Mai 2009

Bizarre Säuger - Rede zur Vernissage



„Bizarre Säuger“


Rede zur Eröffnung der Ausstellung

Das Natürliche verkünstlichen und das Künstliche natürlich machen“


von

Hagen Rehborn


in der Galerie auf Zeit

am 13.04. 2009 in Braunschweig

von


Prof. Dr. rer.nat. Werner Deutsch


Technische Universität Braunschweig

„Histoire naturelle“ hat Max Ernst ein 1923 gemaltes Diptychon genannt, dessen Hälften heute an zwei verschiedenen Orten ausgestellt sind – die eine Hälfte in der alten Welt, in der Kunstsammlung des Landes Nordrheinwestfalen in Düsseldorf, die andere Hälfte in der neuen Welt, im Museum for Modern Art in New York.


„Historie naturelle“ ist und bleibt ein rätselhaftes Bild, insbesondere, was die Rolle des Menschen angeht. Auf jeder Hälfte kommt der Mensch nur indirekt bzw. partiell vor. In der Düsseldorfer Hälfte ist eine aus regelmäßigen Steinen zusammengesetzte Mauer mit einem Fenster und einer Tür zu sehen, über die ein Muttertier, vielleicht ein Ameisenbär, mit ihrem Baby auf dem Rücken balanciert. Die Mauer – ein Artefakt des Menschen, das in die „Histoire naturelle“ eingedrungen ist. Sie hindert die auf der linken Bildhälfte dargestellte wilde Natur mit Pflanzen, Bäumen, Früchten, Insekten und Kriechtieren an ihrer weiteren Ausdehnung. Was sich hinter der Mauer abspielt, bleibt dem Betrachter verschlossen, die Ameisenbärin auf der Mauer hat ihm dieses Wissen voraus.


Die Hälfte aus New York trägt den Titel „At the first clear word“. Auch sie zeigt nur einen Teil und nicht den ganzen Menschen. Die Finger einer menschlichen Hand halten Fäden zusammen, die mit roten Beeren verbunden sind. Wie bei der Düsseldorfer Hälfte begrenzt eine Wand den Raum, der unabhängig von menschlichen Einflüssen gewesen ist.


Auf beiden Hälften werden einsehbare und nicht einsehbare Teile der Naturgeschichte miteinander verbunden – durch Öffnungen wie Fenster und Türen, aber auch durch Bewegungen wie das Klettervermögen eines Tieres und die feinmotorischen Bewegungen einer Hand, durch die das Ziehen von Fäden überhaupt erst möglich wird.


In Max Ernst surrealistischem Gemälde geht es um Grenzen und Grenzüberschreitungen, Grenzen, die Natur und Kultur voneinander trennen, und Grenzüberschreitungen, die Verbindungen zwischen Natur und Kultur ermöglichen.


Max Ernst und Hagen Rehborn sind Verwandte im Geiste, die, drei Generationen voneinander getrennt, beide an benachbarten Orten im Rheinland aufgewachsen sind. Beide beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Natur und Kultur.

In der Bildsprache von Max Ernst dominiert die Welt der Pflanzen und Insekten, deren Ausbreitung artefizielle, d. h. vom Menschen verursachte Grenzen gesetzt werden. Bei Hagen Rehborn dominieren Menschen und Hunde bzw. Affen als Stellvertreter für die Welt der Säugetiere. Es geht um das Neben- und Miteinander von Arten, die in der Evolution nacheinander entstanden sind. Wie menschlich können Hunde werden, und wie hündisch können Menschen sein? Weder Max Ernst noch Hagen Rehborn inszenieren eine naturalistische Zeitreise, in der Stufen der Evolution rekonstruiert werden. Sie illustrieren auch nicht den Schöpfungsbericht der Bibel oder die Evolutionstheorie, sondern zeigen, wo die Evolution bzw. die Schöpfung angekommen ist – bei Grenzen, die durchlässig sind und deshalb Neues entstehen lassen, das - und jetzt sind wir auch beim Titel der Ausstellung angelangt – erst durch den Kontakt von Natur und Kultur entsteht. Die Beeinflussung geht in beide Richtungen – das Künstliche wird natürlich und das Natürliche wird künstlich. Was Max Ernst nur andeutet und damit der Phantasie des Betrachters überlässt, wird von Hagen Rehborn geradezu schonungslos offengelegt. Der Dackel Waldi, treuer Begleiter eines jeden Jägers alter Art, wird mimisch ein Mensch, aber sein Speichel fließt weiter ungebremst von Zivilisationshemmungen. Waldi sabbert, wann und wo ihm danach zumute ist. Und der Mensch? Nachdem er auf den Hund gekommen ist, weiß er manchmal nicht mehr, ob die wichtigste natürliche Grenze zwischen Menschen, der Geschlechterunterschied, für ihn noch gilt. Ist ER vielleicht – manchmal – eine SIE, und SIE – manchmal – ein ER? Ist das Spiel mit den Geschlechterrollen nur eine von Verstellung und Verkleidung lebende Travestie? Oder ist das so genannte Quergeschlecht bereits eine als natürlich erlebte Aufhebung von kulturell gesetzten Stereotypen? Ist eine biotechnisch geprägte neue Evolution im Gange, die den sexuellen Dimorphismus überwindet?


Ich halte Hagen Rehborns „Bizarre Säuger“, mit denen wir in dieser Ausstellung Bekanntschaft machen, für ein Weiterdenken von Max Ernsts „Histoire naturelle“. Dieses Weiterdenken ist notwendig, um nicht von der Scilla futuristischer Sirenen und der Charybdis traditioneller Unkenrufe vereinnahmt zu werden. Dann können Menschen Wege finden, bei denen Natur und Kultur zu Partnern werden.

In malerischer Hinsicht knüpfen Hagen Rehborns bizarre Säuger an die Farbkünste eines lange Zeit verkannten Malers, des Belgiers James Ensor, an und bereichern dessen Farbpalette durch schrille Kontraste wie das Aufeinandertreffen von Grasgrün und Signalrot. Mancher Betrachter erlebt hier vielleicht einen Farbschock.


Mit Hilfe unterschiedlicher Medien wie Skulptur, Zeichnung, Malerei, Gemälde und Video drückt Hagen Rehborn das aus, was seiner Pandora irritierender Überzeichnungen entspringt. Er scheut sich nicht, selbst das darzustellen, was er seinen fingierten Menschen und Tieren zumutet bzw. erlaubt.


In dieser Ausstellung kann jeder die gleichzeitig verunsichernde und erhellende Potenz eines Künstlers kennen lernen, den die tonangebenen Medien und Institutionen merkwürdigerweise, wie ich finde, bis jetzt unbeachtet gelassen haben. Die Galerie auf Zeit macht es möglich, hier Hagen Rehborns bizarre Säuger zu sehen. Deshalb gilt auch mein besonderer Dank Hans-Gerd Hahn, Ingrid Graßmann-Hahn und dem Fanclub der Galerie auf Zeit. Ausstellungen wie diese machen deutlich, worum es bei Kunst und Kultur heute geht. Werner Schroeter, ein anderer Wahlverwandter von Hagen Rehborn, hat das kürzlich so treffend auf den Punkt gebracht, dass ich einem Zitat aus einem Interview mit ihm (Die Welt, 3. April 2009) das letzte Wort in meiner Einführung geben möchte.


Deshalb danke ich Ihnen schon jetzt für Ihre Aufmerksamkeit!


„Kunst und Kultur sind die einzigen Waffen gegen die Barbarei. Gegen das Brutale steht die Verfeinerung, die Fantasie des Menschen. Kunst ist gleichzeitig die schutzlose Behauptung eines Anderen. Man kann das kreative Moment gar nicht genug fördern. Sie ist das einzige, was die Seele und das Herz, den Geist und den Körper in Bewegung hält.“


© Prof. Werner Deutsch 2009