Samstag, 30. November 2013

Am Morgen


Er erwachte, als die Sonne von der gegenüberliegenden Fassade auf sein Schlafzimmerfenster reflektiert wurde. Er fühlte sich angeschlagen. Das helle Sommerlicht verbreitete einen leichten, unsagbaren Angstfilm im Raum. Dieser war sonderbar klar und präsent, wie der Schärfefilter bei der Nachbearbeitung eines Fotos. Er stand auf. Kissen und Bettdecke aufschütteln. Gedanken an seine Mutter. Aufräumen und Putzen entspannte. In der Küche war noch Kaffee von Gestern. Er mischte ihn mit Milch aus dem Kühlschrank. Rechner und Router im Arbeitszimmer anschalten. E-Mails abfragen. Er wurde nirgends gebraucht. Ein Download-Link für ein paar Fotos, die sich auf eine Ausstellung irgendwann im kommenden Jahr bezogen. Er versuchte sich beim zuständigen Internetportal anzumelden. Nicht möglich. Ein Gefühl von Unfähigkeit kam auf. Er mailte dem Absender, dass man ihm die Bilder verkleinert als Anhang direkt zuschic­ken möge. Die Bewerbungs-aufforderung für eine Kunstmesse in Los Angeles. Mit Abbildungen der künstlerischen Arbeiten bewerben und nebenbei eine Teilnahmegebühr bezahlen. Das Geld wurde in keinem Fall zurückerstattet, da es zur Abdeckung des Bearbeitungsaufwand dienen sollte. Die Arbeiten würden nicht ausgewählt werden. Er nahm an, dass die Organisatoren gut davon leben konnten. Früher war er auf so etwas schon einmal hereingefallen. Künstler als Zielgruppe, ein ganzer Markt, von Materialien, Karrierevisionen, überteuerten Atelierflächen und nicht eingehaltenen Versprechungen. Alles ganz seriös mit stetiger Nachschubgarantie. Eine Liste von zu erledigenden Dingen klebte am unteren Rand seines Bildschirms. Darauf stand „Nachschlagen Wikipedia Bipolare Störung, Hefe und Mirabellen kaufen, Umsatzsteuervoranmeldung zweites Quartal“. „Die bipolare Störung ist durch einen episodischen Verlauf mit depressiven, manischen, hypomanischen oder gemischten Episoden gekennzeichnet: Depressionen zeichnen sich durch überdurchschnittlich gedrückte Stimmung und verminderten Antrieb aus. Eine manische Episode ist durch gesteigerten Antrieb und Rastlosigkeit gekennzeichnet (...). Dabei ist die Fähigkeit zur Prüfung der Realität mitunter stark eingeschränkt, (...). Betroffene erscheinen wegen ihrer Kreativität in der manischen Episode als charismatische Persönlichkeiten.“ Das war das all­seits bekannte bürgerliche Theorem von Genie und Wahnsinn. Ihm war unklar, ob seine Gemütsschwankungen dort einzuordnen wären. Er kannte einige Psychater aus dem Ausstellungsbetrieb. Sie sammelten Kunst. Sie begeisterten sich für die Form und den Status. Die Entbergung des Unaussprechlichen, welche möglicherweise in einem tatsächlichen Kunstwerk stattfand, war ihnen nicht bewusst. Sie ahnten nichts von einer Wahrheit hinter der Wahrheit. Es waren eher pragmatische Wesen. Wie sollten sie seine geistige und emotionale Verfassung beurteilen. Sein Nachbar im ersten Stock gegenüber hatte das obere Küchenfenster geöffnet. Er sah ihn mit freiem Oberkörper an irgend etwas vor sich hantieren. Das hohe Fenster mit Austritt neben der Küche war geöffnet. Er sah einen weißen Vorhang rechts und links hinter den Flügeln herabfallen. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Das war ein echter Schock. In den drei Jahren, in denen er hier wohnte, war es von innen mit Karton verschlossen gewesen. Wie hermetisch abgeriegelt schien es niemals geöffnet worden zu sein. Bis heute. Er sah die gleichen Regale wie im Wohnraum rechts davon. Das Bett direkt davor mit wenig Platz. Er konnte nur dessen Fußende sehen. Die Friseurin im Vorderhaus hatte ihm vor ein paar Wochen versichert, dass das Fenster schon seit fünf Jahren verdunkelt war. Und jetzt standen die bis zum Boden reichenden Fensterflügel weit offen. Das Doppelfenster des Wohnraums links davon war auf einer Seite durch eine hellbraune, leicht schief hängende Jalousette aus Elefantengras, die rechte Seite durch eine dagegen gelehnten Biertischplatte, nur mäßig verdeckt. Sichtbar durch die freien oberen beiden Fensterflügel, an der Altbaudecke, eine unangenehm neutral wirkende Lampe mit vier verchromten Armen, in die Energiesparbirnen gedreht waren. Dahinter die gleichen Holzregale wie im jetzt offen stehenden Schlafzimmer. Entgeistert wendete er sich ab. Zwei Jahre lang hatte er Visionen von dem gehabt, was sich hinter dem Fenster abspielen mochte. Er dachte an erotische Spiele, eine Konstruktion zum Fixieren und Positionieren einer Person. Eine Gefangene. Ein Gefangener. Exotische Tiere, die nur nachtaktiv waren. Oder so etwas wie eine Dunkelkammer zum Erstellen von Fotoabzügen. Dann vermutete er pathologische Schlafstörungen, Lichtempfindlichkeit, Albdruck. Er dachte an ein Tonstudio, nachdem im Fensterausschnitt des Wohnraumes ein kostspielig aussehendes Mikrophon auf einem Stativ aufgetaucht war. Seitdem er in dieser Erdgeschosswohnung lebte, verging kein Tag, an dem er nicht auf die Fenster gegenüber im ersten Stock schaute. Häufig dachte er nicht über das Dahinter nach. Seine Augen klebten einfach nur an diesem Karton, der die Scheiben von innen komplett verdeckte und der Reste einer roten Beschriftung aufwies. Er ertappte sich dabei, wie er bei seiner Rückkehr von Besorgungen, beim Durchschreiten des Hofes, stets zunächst auf das verschlossene Fenster schaute und dann auf die Fenster rechts und links davon, bevor er sich seinem Hausflur zuwandte. Es gab ein drittes, ein schmales Badezimmerfenster. Hinter dem, höchstwahrscheinlich genauso wie in seinem Bad, sofort die Duschwanne begann. Er sah den Duschvorhang an einer gebogenen Stange durch die Scheibe scheinen. Dieser hatte vor einiger Zeit gewechselt. Ein einfarbiger cremeweißer Vorhang wurde gegen ein Modell mit großen, rot-weißen Blumen auf hellgrünem Grund ersetzt. War das Licht am Abend im Badezimmer erleuchtet, stellte er sich vor, wie der Nachbar duschte. War eine Lichtquelle in einem anderen Raum auszumachen, stellte er, je nach Lichtfarbe, Mutmaßungen zu dessen Beschäftigung an. Seine Verblüffung ließ nicht nach. Er wandte sich immer wieder dem geöffnete Fenster zu. An der Decke hing die gleiche Lampe, wie im Wohnraum daneben. Diese mehrarmige Konstruktion mit unverdeckten Glühbirnen. Am Rande zur Geschmacklosigkeit. Aber das war schwer zu beurteilen, wo doch jedes Einrichtungselement ein Zitat oder das Zitat eines Zitates sein konnte. Die Auflösung des Fenstergeheimnisses war maßstabslos. Er hatte Schwierigkeiten zu begreifen, dass hinter den verschlossenen Fensterflügeln eine solche Banalität darauf gewartet hatte enthüllt zu werden. Vielleicht hatte der Bewohner vor dem Öffnen eine Art simulierten Normalzustand hergestellt. Er wünschte sich, dass ihm etwas einfallen könnte, was die Ödnis seines Eindrucks weniger deprimierend machen würde. „Ce qui est passé près de chez vous“ hatte er vor Jahren eine blutige Installation genannt, die sich in Anlehnung an einen belgischen Film mit der Enthüllung des Grauenvollen hinter der alltäglichen bürgerlichen Fassade beschäftigte. Hier war es wie das Verschwinden einer Fatamorgana. An deren Stelle fand sich nichts außer noch mehr Sand. Auf dem Tisch neben seinem Fenster lag ein Stapel Papierbögen. Neue Entwürfe für ein Männerportrait mit Halsketten. Er beabsichtigte einen gealterten prominenten Modedesigner, der sich sichtbar unzähligen plastischen chirurgischen Eingriffen unterzogen hatte, mit einem jugendlich athletischen Oberkörper darzustellen. Um den Hals wollte er ihm zwei Ketten hängen. Einen dieser in den siebziger Jahren weit verbreiteten silbernen Sternzeichenanhänger, an einer ganz schmalen Gliederkette und einen sechsundzwanzigkarätigen kanariengelben Diamanten, der „Star of India“ hieß und an einer kunstvoll gearbeiteten Platinkette hing. Der Stein war mit viertelkarätigen weißen, in Smaragdform geschliffenen Diamanten eingefasst und befand sich im Besitz des Sultans von Brunei. Sein Interesse an kostbarem Schmuck und farbigen Diamanten war erst vor kurzem erwacht. Seit dem er diese Wohnung bezogen hatte, verfügte er zwangsweise über einen zu bezahlenden Kabelfernsehzugang. Jeder Mieter des Hauses hatte die dementsprechende Klausel in seinem Mietvertrag. Nach anfänglicher Abwehr, ermöglichte ihm nun ein alter Videosichtmonitor, den Empfang etlicher Sender. Darunter befand sich einer, in dem von reizenden Moderatoren, geschätzte achtzehn Stunden täglich, als Schmuckstücke gefasste Edelsteine verkauft wurden. Am Anfang machte er sich über die als Versteigerungen mit sinkendem Preis verpackten Verkäufe lustig. Aber nach einiger Zeit bemerkte er, dass ihn besonders die so genannten Highlight-Versteigerungen, bei aller ironischer Distanz gegenüber dem Medium, faszinierten. Bei ihnen wurden, mehrmals über den Tag verteilt, besonders große Edelsteine angeboten. Das Betrachten der funkelnden Objekte, welche von den sorgsam manikürten Fingern der Moderatoren gehalten wurden, bereitete ihm unsagbares Entzücken. Er begann sich für berühmte und besonders wertvolle Schmuckstücke zu interessieren. Die angeblich magische Wirkung auf ihre Besitzer schien bei vielen so genannten Fachleuten eine ausgemachte Sache zu sein. Schon bald versuchte er auf seinen Bildern Schmuckstücke mit solchen Edelsteinen zu malen. Die nicht luziden Farbwerte der für Maler zur Verfügung stehenden Farbpasten, wurden aber weder den feurigen Steinen, noch den verwendeten Edelmetallen gerecht. Eine wahrhaftige Darstellung war nur durch eine Bewegung in der Lichtbrechung möglich, also mittels Video- oder Filmtechnik. Ohne Bewegung schien ihm die Definition eines Betrachtungsraumes von Bedeutung, in dem die Stücke plausibel zur Geltung kamen. Sie waren für das Tragen auf Haut bestimmt, also malte er sie auf nackten Körpern. Er überlegte, welchen Raumbezug er dem neuen Männerportrait geben könnte und schaute erneut auf das geöffnete Schlafzimmerfenster gegenüber. Nach einem kurzen Moment des Zögerns, wurde ihm klar, dass er die dort befindlichen Regale und die Lampe als Hintergrund für das Portrait verwenden wollte, ja musste. Dafür benötigte er eine Fotografie. Er holte seine Kamera aus einem Schubladenschrank, setzte ein Teleobjektiv auf und begab sich in sein Schlafzimmer, von wo aus er einen frontalen Blick auf das Fenster hatte. Die Altbauscheiben verzerrten den Durchblick. Er öffnete die beiden unteren Fensterflügel und stellte das Objektiv scharf. Bei zweihundert Millimeter Brennweite konnte er nun auch sehen, dass auf den Holzregalen halbtransparente Kunststoffboxen standen, wie sie derzeit häufig in Einrichtungshäusern verkauft wurden. In ihnen schimmerten die darin aufbewahrten Dinge dunkel hervor, ohne dass man erkennen konnte, um was es sich handelte. Er versuchte den richtigen Ausschnitt zu finden und drückte auf den Auslöser. Im Sichtfenster erschien das gemachte Bild. Er versuchte es noch einmal. Jetzt mit etwas mehr Fassadenumfeld. Schließlich konnte er den nackten Modemacher auch in Ganzkörperansicht malen, wie er gerade aus dem Raum in das geöffnete Fenster trat. Er schaute durch das Okular und löste aus.   Plötzlich erschien im Fenster der Nachbar. Er trug nach wie vor nur seine Jogginghose und schaute direkt auf ihn, wie er mit der Kamera auf das Fenster zielte. Dann grüßte er mit winkender Hand, drehte sich um und zog seine Hose für einen Augenblick soweit herunter, dass man seinen nackten Hintern sehen konnte. Dann drehte er sich wieder um, schloss grinsend die Fensterflügel und zog die weißen Vorhänge davor. Er ließ die Kamera sinken. Die Sonne schien.

© Hagen Rehborn 2013
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(Die Handlung dieser Erzählung ist frei erfunden und jede Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder Situationen ist rein zufälliger Natur - this story is  fictional and any resemblance to person living or dead is purely coincidental.)