Sonntag, 7. Februar 2010

Reise


























Reise


Sie verliessen den Landsitz über die grosse Freitreppe. Er folgte kurz hinter ihr.

Die nach Südosten ausgerichtete Flucht des einer florentinischen Renaissance Villa nachempfundenen Gebäudes öffnete sich zu einer bis zum Horizont reichenden Abfolge grüner Weiden. Sie war in einen warmen cremefarbenen Wintermantel gehüllt und hielt den hochgeschlagenen Kragen im Ausschnitt zusammen. Er hatte seine dunkelbraune Lederjacke offen stehen und stürmte noch auf der Treppe an ihr vorbei, um die Beifahrertür des am Treppenabsatz mit laufendem Motor parkenden Bentley zu erreichen. Sie lächelte ihn beim Einsteigen zu und drehte verzückt ihr Gesicht zur Seite, als er versuchte sie zu küssen.

Er streifte nur noch ihr Kinn und verweilte kurz an ihrem hellen Hals, bevor sie sich lachend in den Sitz warf. Er schlug die Tür mit Schwung zu. Sein kondensierender Atem vermischte sich mit der grossen Wolke weisslichen Dampfes, der den beiden Auspuffrohren des Wagens entwichen war. Er stieg auf der Fahrerseite ein.

Der Bentley fuhr die Auffahrt an einigen leeren, auf Säulen stehenden Steinblumenkübeln vorbei und verschwand mit leiser werdendem Motorengeräusch hinter einer seitlich vom Weg stehenden mediterranen Zypresse. Er war noch kurze Zeit als leises Surren zu hören, danach breitete sich eine Stille aus, die durch das Singen eines Vogels beinahe verstärkt wurde.

Eine Amsel saß nicht unweit der Auffahrt auf einem Weidepferch und sang zwitschernd ihr Lied. Das Abendrot breitete ein kirschrotes Licht über dem Grün der Pflanzen aus.

"Schau wie schön!", sagte sie und schaute aus ihrem Fenster und dann lächelnd auf ihn.

Draußen hatten sich die Hügel zum Meer hin geöffnet. Schon nach kurzer Zeit fuhr der Wagen auf der gewundenen Küstenstraße Richtung Süden und über dem sehr ruhigen Meer stand die Sonne wie ein grosser halbfester Eidotter.

Sie hatte noch stets ihren Mantel an, die Heizung hatte wegen der Kälte noch nicht den gesamten Innenraum erwärmen können. Er schaute sie kurz an und nahm seine rechte Hand vom Lenkrad und reichte sie nach oben geöffnet in ihre Richtung. Sie ergriff sie mit ihrer Linken und streichelte dabei die Innenfläche, bis er um die Kontrolle über das Lenkrad nicht zu verlieren schnell wieder das Steuer ergriff. Ihre Hand verharrte einen Moment in der Luft, während sie wieder gebannt auf das Meer schaute, um sie dann auf die hölzerne Konsole zwischen ihren Sitzen zu legen.

Die Fahrbahn senkte sich in eine scharfe Rechtskurve. Kurzzeitig war die Sicht auf das Meer durch einen große Felsen verborgen. Als sie ihn umfahren hatten und mit Blick auf eine sandige Bucht die nächste Klippe entlang wieder steil nach oben fuhren murmelte er mit kurzem Seitenblick zärtlich "Ti amo ..."

Sie wandte sich vom Ausblick ab, beugte sich nach vorne und betätigte mit einem kurzen Klickgeräusch das in die Wurzelholzkonsole eingebaute altmodisch in Chrom gefasste Radio.

Ein Rauschen ertönte. Sie lachte. "Dass du so ein altes Gerät behältst ..."

"Nun, es gehört in die Originalausstattung dieses Wagens. Das deiner Meinung nach altmodische Radio war vor 40 Jahren ein kostspieliger Schnick-Schnack."

Das Rauschen wurde lauter und brach dann ab. Erst leise mit Unterbrechungen, dann, mit dem Erreichen der Anhöhe immer klarer und lauter ertönte Jazz Musik. "Ach, hör mal ..."

"Aber das hält sicher nur bis zum nächsten Talkessel", entgegnete er.

Der Wagen war erfüllt mit den Klängen eines massiven Bläsersatzes, der offenbar das Geräusch einer alten Dampflokomotive nachzuempfinden versuchte. Sie jauchzte auf. "Das kenne ich!"

Die Sonne war nun schon zu mehr als der Hälfte in der Bucht versunken und ein glühendes Farbband bildete sich am Horizont, denn nachdem die Intensität des Lichtes nachgelassen hatte, wurde die Farbigkeit der Atmosphäre nicht mehr von den Reflexionen des Lichtes im Wasser überdeckt.

Die Musik wurde wieder 'rauschiger' und brach dann fast gänzlich ab.

Die nun auf der Fahrerseite befindliche Steilwand leuchtete schimmernd.

Die Fahrbahn war mittelgrau mit dunkleren Einsprengseln dort wo der Asphalt nass war und mit eher weisslich grauen Flächen, wo man offenbar eine andere Materialmischung verwendet hatte.

Die Fahrbahnmarkierung war weiß, neu und deutlich sichtbar. Die Strasse hatte sich nach dem Passieren einer auf der meerzugewandten Seite liegenden Trattoria deutlich verbreitert.

Er fuhr entspannter und liess seine rechte Hand erneut vom Lenkrad um sie mit ausgestrecktem Arm hinter ihre linke Schulter zu schieben.

Sie griff wieder zum Radio, so dass sein Arm ins Ungewisse Richtung Sitzpolster fiel und er ihn ans Lenkrad zurückzog. Sie hatte die Lautstärke heruntergeregelt und suchte einen neuen Sender.

Es ertönte ein Klaviersatz, erst durch knisternde Geräusche gestört und dann immer klarer werdend, in Abhängigkeit zur Höhe der auf der Fahrerseite liegenden Felswände.

"Hör doch, das Klavierkonzert ..." "Oh ja !" fiel sie ihm mit freudig erregter Stimme ins Wort.

Ihre Konzentration nahm sichtbar zu und sie versuchte nun mit Hilfe beider Hände den Sender präziser am Wählrad einzustellen. Die Musik wurde nun sehr klar und beide verharrten still um dem Klang des Klaviers und des sehr kraftvoll einsetzenden Orchesters zu lauschen.

Sie schaute ihn von der Seite an und lächelte bei der Erinnerung an das Bartók Konzert in Mailand. Sie hatten damals bei dem aufkommenden Regenwetter keine rechte Vorstellung von dem was sie gemeinsam hätten machen können. Erfahrungsgemäß war zur Modewoche abends fast alles ausgebucht und schon ein Platz in einem vernünftigen Restaurant war nur nach langfristiger Vorbestellung zu ergattern.

Er hatte das Konzertprogramm auf einem Tisch in den Räumen der Messe gefunden und ihr schon am Nachmittag vorgeschlagen, doch einfach abends zum Konzertsaal zu fahren. Sie hatte etwas irritiert reagiert. Schliesslich dachte sie, dass sie ihren Abend anders verbringen würden, nachdem er sie am Tag zuvor etwas unbeholfen beim Abschied am Eingang des Hotels geküsst hatte.

Die Konzertübertragung befand sich bereits im dritten Satz, allegro molto, das Orchester setzt mit rhythmischen Streichern ein. Draussen war es unterdessen fast dunkel geworden. Die Landschaft war flacher und die Strasse folgt dem weniger zerklüfteten Küstenverlauf weiterhin nur wenige Meter vom Wasser und dem nun davor liegenden Sandstränden entfernt. Das Abendrot war noch als leichtes Glimmen am Horizont zu sehen. Sie hatte sich andachtsvoll in den Sitz zurückfallen lassen und schaute wie gebannt aus dem Fenster.

Auf der nun geraden Strecke beschleunigte er den Wagen, schaltete aus dem sechsten Gang nach unten, so dass das Motorengeräusch deutlicher in den Innenraum des Wagens vordrang.

Er hatte die Scheinwerfer eingeschaltet.

Das Klavier im Radio spielte eine ekstatische Abfolge von Tönen, als sie für den Bruchteil einer Sekunde etwas großes Schwarzes am Wegesrand erblickte.


Der Bentley prallte mit hoher Geschwindigkeit auf ein Wildschwein, dessen Frischlinge sich noch im Gestrüpp der Straßenbepflanzung in Sicherheit geduckt hielten.

Das Schwein schlug mit aufgeplatztem Bauch über die Kühlerhaube auf die Windschutzscheibe. Der Wagen brach nach links aus, überflog sich überschlagend die Leitplanken und schoss auf den leicht abschüssig liegenden weichen beigefarbenen Sandstrand einer kleinen Lagune.

Dort wurde er mit lautem Krachen durch einen mannshohen, sehr dunklen, mit Algen bewachsenen Felsen aufgehalten.

Das Rauschen der auf den Strand rollenden Wellen vermengte sich mit dem leicht gestörten Empfang des Schlussakkordes. Schon mit dem letzten Ton des Konzertes erscholl der begeisterte Applaus des Publikums, welcher zugunsten der Stimme des Moderators schnell ausgeblendet wurde.


© Hagen Rehborn 2009/2010

Momente


























Momente



Er saß im oberen Drittel des mittleren Blocks und hatte den Platz für dieses Konzert ganz bewusst ausgewählt. Hatte man in den steil ansteigenden Sitzreihen von dort aus doch einen ausgezeichneten Blick auf die Bühne und das gesamte Orchester und befand sich akustisch in idealem Abstand.

Die halbrunde Bühne war bis auf den letzten Platz mit Instrumenten, Stühlen und Notenständern bestückt.

Die Komposition verlangte nach einem umfangreichen Aufgebot an Becken, Trommeln und Streichern.


Die Reihen des Zuschauerraumes füllten sich wie stets erst nach der dritten und letzten Fanfare gänzlich, ein Verhalten, welches das Publikum erst in den letzten Jahren entwickelt hatte, war man doch in seiner Wahrnehmung früher schon nach der ersten Fanfare in einen halbwegs gefüllten Saal gekommen und nach dem dritten Signal kamen dann nur noch abgehetzt Verspätete.

Das Konzert war laut Information am Eingang ausverkauft.


Ein paar Stehplatzkartenbesitzer suchten trotzdem in den Reihen nach freien Plätzen und wurden wie immer fündig, schließlich gab es unverständlicher Weise stets einige Abonnenten, die ihre Karten verfallen ließen.

Sein Interesse galt denen, die in unmittelbare Nähe zu ihm saßen, jenen also, mit deren Verhaltensweisen er während des Konzertes unweigerlich konfrontiert sein würde.

Wenn sie sich ruhig und entspannt hinsetzten, nicht sprachen, nicht über ein Meter fünfundachtzig groß waren, nicht stanken, sich nicht im Rhythmus der Musik bewegten und wenn sie keine kleinen Kinder waren, dann mochte er sie.

Er hatte leider schon unerträgliche Sitznachbarn erlebt, die sich wie die Vandalen aufgeführt hatten, ohne, selbstredend zu wissen was ein Vandale war.

Kinder in klassischen Konzerten waren der Alptraum seiner schlaflosen Nächte.

Er mochte Kinder wenn sie still, introvertiert und hübsch waren, wenn sie kluge Fragen stellten und nicht laut wurden, wenn sie sich nicht schmutzig machten und wenn sie sich nicht zu hektisch bewegten.

Zu seiner Rechten nahm eine Frau in den Fünfzigern Platz, die in einen cremefarbenen Hosenanzug gekleidet war und dazu eine weiße Bluse mit vielen Perlen als Kette trug.

Beim Betrachten der Dame steckte er seine Hand in die Hosentasche und fand_ irritiert einen von ihm geschriebenen Zettel, den er zerknüllt eingesteckt zu haben schien.

Er strich das Papier glatt und las eine von ihm verfasst Liste einheimischer Pflanzen:


1. Tollkirsche - Atropa belladonna;

2. Roter Fingerhut - Digitalis purpurea;

3. Gepfleckter Schierling - Conium maculatum; 
4. Herbstzeitlose - Colchicum autumnale; 
5. Blauer Eisenhut - Aconitum napellus; 
6. Schwarzes Bilsenkraut - Hyosyamus niger;

7. Safrangelbe Rebendolde - Oenanthe crocata;

8. Stechapfel - Datura Sramomium;

9. Lorbeerseidelbast - Daphne laureola 
und 10. Spanischer Ginster - Spartium junceum.


Er hatte einige diese Pflanzen vor ein paar Wochen in seiner Gärtnerei bestellt und bemerkte irritiert, dass sie sich nicht mehr bei ihm gemeldet hatten.

Es schien so, als müsste er da am Montag nochmals vorbeifahren.

Die Frau in Creme hatte ihre dicke, sehr große Brille abgenommen und an einer Kette hängend auf ihrem Decollté abgelegt, so dass man ihre Halsfalten durch die aufrecht stehenden Gläser deutlich vergrößert, wie zwei Fenster rechts und links auf ihrem Busen stehend, sehen konnte.

Ihre Wimpern waren, wie bei vielen Frauen über fünfzig, etwas von der Wimperntusche verklebt, weil sich die feinen Härchen nach den Wechseljahren manchmal in unterschiedliche neue Richtungen verbogen und dann nicht mehr

so leicht zu färben waren. Es gab ihnen stets das etwas lädierte Aussehen, welches junge Frauen nach einem Weinkrampf hatten, nur dass man es in ihrer Altersklasse für gewöhnlich und nicht für sonderbar hielt.


Die Brillenkette hatte sich mit der mehrreihigen Perlenkette verwirbelt, so dass eine Reihe in Richtung zu rechten Schulter etwas in der Luft schwebte.

Die Brillenkette war aus transparenten Kunststoffgliedern und unter den Perlen kaum zu erkennen.


Er erinnerte sich daran, gelesen zu haben, dass die Einwohner Polynesiens große Tahitiperlen zermahlten, um das daraus gewonnene Perlmutpulver als Aphrodisiakum mit Honig einzunehmen.


Heilsame Dinge sind kostbar, haben aber wenig mit unserem Glauben an zeitlosen Wert zu tun, sie waren stets Moment der in eine Zukunft weist, wie Musik, fand er.

Die Musiker betraten den Bühnenraum und das freudlos gekleidete Saalpersonal schloss die Türen.

Zuspätkommende würden nur noch den dafür vorgesehenen Balkon betreten dürfen und auch nur an Stellen des Konzerts, die ein Öffnen der Türen unbemerkt zuliessen.

Eine Regelung die sehr im Einklang mit seiner Auffassung von der Würde des Augenblickes stand.

Die Musiker nahmen ihre Plätze ein.

Das etwas unbestimmt anmutende Rücken der Stühle, das Befingern der Instrumenten und von Lächeln begleitete Kollegengespräche wurde bald vom Aufstehen des ersten Violinisten beendet, der den Ton zum Einstimmen vorgab.


Der Dirigent betrat die Bühne.

Er erklomm eine Art kleine Empore, mit einer Absperrstange im Bereich des

Rückens. Applaus kam auf, er verbeugte sich und kehrte dem Publikum den Rücken zu. Das Licht im Zuschauerraum wurde gedimmt.

Er hob die Arme und begann, den Taktstock in der Rechten, zu dirigieren.

Die Musik setzte leicht zeitversetzt ein und überschwemmte den Konzertsaal 
sofort mit ihrer immensen Kraft, wie ein Strom, der ein Stück Land überflutete.

Er kannte jeden Ton, der nun gespielt wurde auswendig. Er verkrampfte sich ein wenig, in der bangen Erwartung, etwas könnte sich anders anhören, als er es für angemessen hielte.

Nach wenigen Minuten war der Bann aber gebrochen.

Er wusste nun, dass dieses Orchester eine Interpretation spielte, die er interessant und überraschend fand. Selten hatte sich herausgestellt, dass der erste Eindruck dann doch noch in eine Enttäuschung führen konnte.

Der erste Satz verlief für ihn sehr beglückend, die Kraft der Musik trug seine

Gedanken hinfort und die Töne lösten in ihrer Abfolge unmittelbare Empfindungen wie Trauer, Freude und Euphorie aus.

Nach dem Ende des Satzes und der darauf folgenden kurzen Atempause,

hustete man im Publikum vereinzelt, jemand in einer der vorderen Reihen schien kurzzeitig eine Art Keuchhustenattacke zu erleiden, beruhigte sich aber mit dem erneuten Heben des Taktstockes durch den Dirigenten sehr rasch.


Der dicke Mann zu seiner Linken kratzte seine Hose im Kniebereich ...


Zwischen ihnen war ein Platz unbesetzt geblieben.


Der zweite Satz begann fulminant.

Die Becken wurden in Schwingungen versetzt und die Kontrabassisten arbeiteten sich in ihrer unnachahmlichen Halbsitzstellung auf einer Art Barhocker an ihren riesigen Instrumenten mit sägenden Bewegungen ab.


Plötzlich schlug etwas gegen sein Bein.

Er wendete sich irritiert nach rechts.

Die Sitznachbarin in Crème hatte ihr Bein starr in seinen Fussbereich gestreckt.

Sie war in ihrem Sitz nach unten gerutscht, so dass sich ihr Gesicht durch die Sitzlehne gestützt etwas zu ihm gewandt hatte.

Das Kinn berührte ihre Brust und ihre abgerutschte Brille hatte sich dazwischen verkeilt.

Die Kontrabässe und Becken vereinigten sich in einer gewaltigen Klangflut.

Er versuchte vorsichtig ihr Bein bei Seite zu schieben, sie schien keinen Wiederstand zu bieten und kippte mit ihrem Oberkörper seitlich über die zwischen ihren Sitzen befindlichen Armlehnen gegen seine Schulter.

Verstört erhob er sich aus seinem Sitz und versuchte sie mit seiner rechten Hand zurückzuschieben.

Ihr Kinn verweilte merkwürdig auf der Brust und nun sah er, dass aus ihrem Mund Speichel tropfte, der sich in einem der Brillengläser fing.

Das Orchester erklomm den gewaltigen Höhepunkt in der Mitte des 
zweiten Satzes. Hörner erschallten.

Er sah sich entsetzt um.

Eine Person in der Reihe über ihm beugte sich nach vorne und versuchte zu ergründen was vor sich ging.


Er hielt die Frau an den Schultern fest und schüttelte sie leicht, sie rutschte weiter nach unten, ihr Gesicht berührte seinen Bauch.

Er sprach verzweifelt: „Oh Gott! Hilfe!“. Aber seinem Mund entwich nur eine Art Krächzen.

Ihr Leichnam sackte vor ihm auf den Tribünenboden.


©Hagen Rehborn 2010