Dienstag, 29. März 2022

Die Apotheose der K

 Die Apotheose der K

 K rief ihn in regelmässigen Abständen an. Sie kannten sich schon viele Jahre. Ihre Verbindung war stetig aber nicht zu eng. Ein Umstand der ihrer Kommunikation zu gute kam. Ihre innere Distanz, die nichts von Gleichgültigkeit hatte, machte den Austausch zwischen ihnen erst substanziell erquicklich. Sie hatten sich schon lange Zeit nicht mehr gesehen, aber das war nur der großen räumlichen Entfernung ihrer Wohnorte geschuldet. Mindestens einmal im Monat tauschten sie sich telefonisch aus und es war klar, dass beide Rücksicht auf die Befindlichkeiten des anderen nahmen. Wem es mit einer Sache nicht gut ging, konnte man auch mal nur über sich reden und wenn es zeitlich oder sonst wie nicht passte, wurde das Gespräch frühzeitig beendet.
Im Sommer des letzten Jahres hatte er in Abständen von mehreren Tagen versucht sie zu erreichen. Auf ihren Anrufbeantworter sprach er seine nicht nur symbolische Beunruhigung, ob es ihr gut ginge. Sie rief ihn erst einige Tage später zurück, er konnte nicht abheben und sie hinterliess folgende Nachricht auf seiner Mailbox:
„Hallo mein Lieber. Hier ist K am Apparat. Ich hatte gar keine Zeit zurückzurufen, die Tage. Kein Grund sich Sorgen zu machen, mir geht es gut. Dass ich mich nicht melde, bedeutet überhaupt nicht, dass es mir „nicht“ gut ginge. Es ist nur so, dass ich gerade so viel zu tun habe. Ich komme nicht dazu mich mit anderen zu beschäftigen. Ich weiß nicht, ob ich es dir erzählt hatte, aber ich habe jetzt die gesamte große Atelierfläche. Einfach so, weil alle anderen schon ausgezogen sind. Wer weiß wie lange noch, bevor das Gebäude abgerissen wird. Und ich will für die Ausstellung, die ich mit meinem Freund N, ich glaube ich hatte das mal erwähnt, in einem vegan-buddistischen Meditationszentrum in der Hocheifel machen werde, unbedingt große Papierbögen bemalen. Ich lasse sie von der Decke hängen und werde sie beidseitig bearbeiten. Diese Chance kann ich mir nicht entgehen lassen. Ich bin jetzt schon über sechzig und ich will es einfach noch mal wissen. Ich will es für mich tun. Jetzt ist die beste Zeit dafür. Neben dem Malen muss ich auch noch den Haushalt managen, waschen, kochen und einkaufen. Das kostet Stunden jeden Tag, du kennst das. Und meine Tochter ist nicht leicht in Bewegung zu bringen, da muss ich ran, sonst sitzt die nur noch vor ihrem Computer oder hängt mit ihrer Freundin ab. So süss die beiden! Du glaubst es nicht, wie verliebt sie sind! Ich bin gerade bei meinem Vater auf der Alb. Ich bin so froh, dass er mich weiterhin finanziell unterstützt. Was sollte ich ohne das Geld machen? Ich habe hier in seinem Haus die ganze obere Etage für mich. Hier hängen viele Zeichnungen aus meiner Frühphase, die ich erst kürzlich habe rahmen lassen. Hatte ich dir davon schon erzählt? Die sind teilweise noch aus meinem Studium. Wahnsinn! Aber ich finde die sind echt gut. Die lagen jahrelang in einer Schublade rum. Meine Schwester ist auch hier, mit ihren Kindern aus den USA zu Besuch. So viel zwischenmenschliche Interaktion überfordert mich beinahe. Mein Vater ist so schwerhörig, es ist nicht leicht mit ihm zu sprechen. Also mon cher, ich hoffe dir geht es gut und du kommst mit deinen Leuten auf dem Land gut über die Runden. Ich kann wegen der Ausstellung erst mal nicht mit noch mehr Leuten kommunizieren. Deswegen würde ich mich erst in drei bis vier Monaten melden. Du weisst ja, wie das ist, manchmal wird es einem einfach zu viel und die Perspektive mit der Ausstellung lasse ich mir nicht entgehen. Ich muss mich auf meine Kunst voll fokussieren, das bin ich mir selbst schuldig, habe ich gerade das Gefühl. Wenn nicht jetzt, wann dann? Ich denke du kannst das verstehen. Bis zum Herbst mein Lieber!"
H schaute auf sein Handy, drückte den Monitor schwarz und schob es in seine Hosentasche.
Er schaute auf den Horizont. Ein grollendes Donnern ertönte. Ein kleiner Spalt in der trüben Wolkendecke riss direkt über der Horizontlinie auf. Gleißendes Licht brach daraus hervor. Es strahlte auf die vor ihm liegenden Felder. Die Luft vibrierte. Es roch nach versengtem Metall. Sein Rad zitterte. Der Hund, wo war er? Woher kam das Bellen? Da sah er ihn in rasendem Tempo auf das Licht zulaufen. Sein Fellkörper war von einem bläulichen Lichtschein umfangen. Es erinnerte an eine Gasflamme. Was sollte das? „Komm bei Fuß!“, schrie er ihm hinterher. Das Donnern schwoll an. Die Wolkendecke hatte sich wie ein Vorhang gelichtet und aus ihrem hellsten Zentrum sah er etwas größer werden. War es ein Vogel? Ja, ein sehr großer Vogel. Der Hund schien sich schon unter ihm zu befinden und bellte ihn wie wahnsinnig geworden an. Da sah er, dass es ein Mensch war, der sich mit flammenden Flügeln immer mehr vergrößerte. Es war eine Frau in einem rosa-farbenen Cape à la Thierry Muegler. Es war K! Wie jung sie aussah! Sie lächelte ihn riesenhaft an. Die Luft war heiß geworden, voller elektrischer Entladungen knisterte es ringsum. Sie lachte tonlos und schien dabei nur ihn zu fixieren. Da fing der Hund an zu fliegen. Laut kläffend erhob sich sein Körper mit einem bläulichen Schweif in die Luft. Bald erreichte er die nun riesenhafte K. Sie bedeckte schon nahezu den gesamten Himmel. Sie öffnete ihr Cape und zeigt darunter ihren schwarzen, hauteng sitzenden Airobicanzug mit nackten Schultern. Der Hund erreichte sie durch die Luft schwebend und biss zielstrebig in einen ihrer riesigen nackten Füße, die mit rot lackierten Nägeln aus rosa-farbenen hochhackigen Pantoletten hervorschauten. Da verzog sich ihr Mund und ihr Lachen wurde zu einer Fratze. Wie ein Luftballon schien sie ihre Masse zu verlieren, um im gleichen Moment kleiner und schrumpeliger, wie eine immer älter werdende Frau auszusehen. Der Hund liess sie wieder los, schwebte torkelnd zu Boden und landete auf allen Vieren. Der nun nur noch flugzeuggroße Körper von K zerbarst mit einem hellen Knall in einer Art Feuerwerk. Glitzernde Akzente deren Helligkeit für den lichten Tag völlig ausreichten. H war fassungslos auf die Knie gegangen. Das Rad lag im Dreck. Das Donnern verhallte. Der Himmel verlor sein gleißendes Licht und der Hund rannte aufgeregt wedelnd auf ihn zu. Auf seinem Kopf trug er ein goldenes Krönchen. Er umarmte das Tier und las die Buchstaben, welche vorne auf den goldenen Zacken thronten. „Zu viel Kunst“ stand dort in gotischen Lettern. Das Krönchen war fest mit dem Kopf des Hundes verwachsen. 
„Wie soll ich das zu Hause nur erklären ...“, dachte sich H, als der Hund sein Gesicht abzulecken begann.

© Hagen Rehborn 2022 - all rights reserved

Montag, 7. März 2022

selfportrait with blue vase



"Selbstportrait mit blauer Vase | selfportrait with blue vase",
Öl auf Leinwand | oil on canvas
2 x (150 cm x 110 cm),
2021/2022