Montag, 27. August 2018

regionalexpress

männer mittleren alters mit karierten hemden und hosen, deren blasse beine aus dem stoffsaum wie haarige helle klötze hervorschauen, öffnen um elf uhr ihre erste bierflasche, die sie einem schwer aussehenden mit sinnlosen schriftzügen bedruckten proviantrucksack entnommen haben, welcher sich in seinem schmutzigen mausgrau an die farbskala der mit zusätzlichen blau und grüntönen akzentuierten bekleidung anlehnt. die füße in sandalenartigen schuhen, deren farben die töne der draussen vorbeiziehenden völlig vertrockneten landschaft immitieren und sichtausschnitte auf der weißlichen fußhaut zulassen. rote haare mit blauen adern in rosafarbenem fleisch erinnern an kalbsleberwurstpelle.
das bier strömt in den körper und umspült die eingeweide wie ein fleischstück im bräter. nach jedem schluck wird luft ausgestoßen und der mund mit dem handrücken abgewischt. draussen liegen umgestürzte birken in der gegend herum. flachwurzler werden als erstes aussterben, das klima verändert sich dauerhaft. 
viele reisenden sind bedenkenlos. die frau gegenüber aber ist besorgt über die dürre und kommentiert die flachsgelben bereits abgeernteten felder. sie verhandelt mit ihrem mann über den gleisverlauf, der auch von der ticketkontrolleurin nach einer unbegründeten umleitung mit ausfall eines haltepunktes, nicht nachvollzogen werden kann. wo sie in ihrer arbeitszeit langfährt, sie weiss es nicht. der mann erklärt seine mutmaßungen und die frau schaut ihn andächtig an, er schaut konsequent durch die gegenüber liegendenden fenster in die ferne, aber nie auf seine frau. im fahrradabteil hat sich eine turbinenförmige metallskulptur aus aufeinander geschichteten rahmen gebildet, sie ist dynamisch und wird an jedem haltepunkt veränderungen unterworfen. studenten mit fragendem augenausdruck und sichtbar eingebildeten idealen blockieren den restlichen platz. kinderwagen und hartschalen koffer in pkw größe müssen wegen ihrer heruntergeklappten sitze im eingangsbereich übereinander gestapelt werden. sie fühlen sich im recht, kopieren das verhalten ihrer eltern, die immer ihre freunde sein wollten und lehnen jede form von empathie über ihre aktuellen begleiter hinaus als zumutung ab. rebellion gegen nichts. die komplexität möglicher abweichung von der norm macht einen altersspezifischen sinnvollen ablehungsdiskurs nur noch für sehr wenige denkbar. der rest klebt gelämt an den utopien ihrer eigenen erzeuger, die in ihrer einfachheit auch für simple gemüter zugänglich gewesen sind. deren scheitern an einer immer besser dokumentierten historischen entwicklung beweisbar zu belegen, hält sie nicht davon ab, ausschliesslich nachahmend und als schlechte schauspieler an die eigene triumphalen wahrhaftigkeit glaubend, roboterhaft ihr immerwährendes larvenstadium zu durchleben. männer sind männer und frauen sind frauen. die in dienstkleidung durch die gänge schnell dahinkriechenden kontrolleure überschreiten die geschlechtergrenzen allerdings mühelos, sie haben kein geschlecht, sie sind uniformiert. funktionale elemente des zuges und doch eingenständig. wie katzen scheinen sie wie angewachsen und selbstverständlich dazuzugehören. zeitweilig zusammengerollt in einem dienstabteil. und manchmal sind sie wie beiläufig dabeiseiend unabhängig und solitär. dann wieder neugierig inspizierend mit starker konzentration. bei jedem halt könnten sie mit den wenigen anderen aussteigenden den zug verlassen und um das regendach des streckenhaltepuntes herumstreichen, fauchende kompressorengeräusche von sich gebend und in das hohe gras der landschaft entfleuchend. doch sie bleiben, wie eigentlich auch fast alle passagiere verharren. nur wenige steigen an einer der vielen haltestellen aus oder zu. alle wollen bis zur endhaltestelle weiter. ans windige meer und fort aus der hitze. die mit platz zum atmen holen irgendwann ihren proviant hervor. an gepäckstücke gefesselte kinder werden losgeschnallt und erhalten vollwertigen salat aus kunststoffdosen. sie stellen ihre gequälten schreien unverzüglich ein und versuchen zu fliehen. sehr schnell erkennen sie die aussichtslosigkeit ihres planes und beginnen erneut zu schreien. ihre eltern versuchen sie mit weiterer nahrung und lustigen fragespielen bei laune zu halten. sollen wir ein rotes auto kaufen oder eine weisses? soll vati uns verlassen oder bleiben? hat diese frau dich angefasst? sie vermeiden es sich festzulegen, weil sie wissen, dass klare antworten nicht erwünscht sind. sie essen, antworten, widerrufen, fragen zurück und schreien abwechselnd. später erschlaffen sie und sehen ihren eltern zum verwechseln ähnlich. auch die studenten scheinen sich mimetisch ihrem aussehen anzugleichen. eine allgemeine verähnlichung der physiognomie duchläuft scheinbar den zug. jeder ist mit jedem verwandt. eine einzige familie auf dem weg ans meer. die smartphones werden angestarrt. der empfang ist miserabel und es macht keinen spass mehr erreichbar zu sein.

Donnerstag, 9. August 2018

schaefersee

schäfersee

der chor:
milchig weiss schwebt das wasser

die frauenstimme:
der mittelscheitel eines grauhaarigen riesen erhebt sich aus der mitte
unaufhörlich strömt weisses wasser in den dunkelgrünen see

der chor: 
milchig weisses wasser

die männerstimme:
zentner toter fische treiben regelmässig auf der wasseroberfläche 
die verantwortlichen versuchen etwas zu unternehmen

der chor:
die verantwortlichen!

die frauenstimme:
der rosafarbene mietblock gegenüber versteckt sich hinter pappeln und trauerweiden
deren schatten dunkle flecken ans ufer werfen
die angeblichen bewohner sind nie zu sehen

der chor:
keine lebende seele!

die männerstimme:
ein blattloser grosser baum liegt gestürzt im wasser
eine blesshuhnfamilie versucht der möderischen sonne zu entgehen
ein junge schreit: eis eis, wir kaufen eis! 
seine schwester rennt ihm sprachlos hinterher

der chor:
die mörderische sonne!

die frauenstimme:
beide entfernen sich blitzartig von ihrer tante, die auf einer maroden bank sitzt
sie verantwortet das in den händen klimpernde eisgeld
und spricht in einer unerhörten sprache auf ein smartphone ein 

die männerstimme:
der irre mann rennt an den blesshühnern vorbei und schreit hoch zur terrasse der bibliothek: nah omi, alles in ordnung bei euch?
er entschwindet in eine gruppe von drogendealern in der nähe des minigolfplatzes 
sie spielen nicht und haben kein interesse für den see

die frauenstimme:
senioren ziehen mit rollatoren am geschlossenen ruderbootverleih vorbei
der nachfolgende stadtreinigungsmann versucht mit einem laubbläser tonnen von feinem staub in die stratosphäre zu befördern
die angebliche omi und ihre begleiter schreien ihn über den zaun hinweg an
er versteht und schaltet das gerät einfach aus

der chor:
feiner heisser staub

die frauenstimme:
er folgt seinem blättersammelnden kollegen in die bibliothek
da werden sie ein schweres problem lösen: wachsende pflanzen
an der uferpromenade kämpfen männer in kurzen hosen gegen wespen
alle tragen sonnenbrillen

der chor:
der heisse wind weht und die sonne brennt

die männerstimme:
in der milchigen luft schwebt das wasser höher 
die köpfe von zwei schwimmenden menschen tauchen neben der fontäne auf
ahnungslos wie blesshühner halten sie sich über wasser

der chor:
herr erbarme dich ihrer seelen!





Mittwoch, 8. August 2018

Purgatorio

"Purgatorio", Chinatusche auf Papier, china ink on paper, 42 x 29,7 cm, 2018