Samstag, 20. Oktober 2007
Das Ohr
Vor ihm flogen ein paar Strandläufer auf. Anstatt hinter ihn zu fliegen, so dass er sie beim weiterlaufen nicht wieder zwangsläufig aufscheuchen würde, bewegten sie sich immer nur ein paar Meter von ihm fort, so dass er sie mehrfach zum auffliegen brachte, bis sie endlich über den Strand in Richtung Dünen abzogen.
Hier gab es nichts und deshalb alles.
Keine Gebäude keine Bäume, keinen Müll, keinen Lärm und keinen Gestank.
Aber Strandgut welches sich in jeder Mülltonne nicht vom Rest absetzen würde. Ein ziemlich laut tosendes Meer, welches mit Wucht auf den Strand brandete, ein Schiffswrack zwischen den Wellen, welches die Größe mehrerer Kleinwagen haben musste, Fischgestank von toten Einzelexamplaren, die es nicht mal als Futter für grössere geschafft hatten und nackte fette Menschen, die träge unter geschmacklosen Sonnenschirmen dösten.
Das erinnerte ihn wieder an seine prekäre Lage.
Am Ende des Strandes waren nur noch sehr vereinzelt Menschen zu sehen. Diese offenbarte sich, wenn er sich hier im Sand niederließ, als eine lockere Kolonie frustrierter Homosexueller, die schnellen Sex in den Dünen oder andere Albträume suchten. Ihre Begehrlichkeit war anstrengend, gab es als nackter Mann kaum tragfähige Möglichkeiten zu demonstrieren, dass man seine Ruhe haben wollte. Also lief er lieber weiter, am Einlassrohr der Papierfabrik vorbei, die in riesigen Mengen eine braune, scharf stinkende, heiße Brühe ins Meer leitetete. Bis zum nächsten Schiffswrack, welches nur noch bei Ebbe zum Vorschein kam und wo, wenn überhaupt, nur noch Angler in erstaunlicher Beharrlichkeit ihre Ruten ins Wasser warfen. Da konnte man in Ruhe liegen oder im eiskalten Wasser planschen, sich von beißenden Fliegen anfallen lassen und ernüchtert wieder aufbrechen, wenn am Nachmittag der vom Meer kommende Wind Orkanstärke erreichte und den Sand wie in einer Sandstrahlerei aufpeitschte.
Was beruhigte ihn daran?
Es hatte ein Programm, dem er folgen konnte, die ungewisse nahe Zukunft lag bei Punkt zwei und vorher kam Punkt eins, abwarten, bis der Urlaub vorbei war. Dieser Punkt konnte gefüllt werden mit Überlegungen zu Punkt zwei, dies wiederum ließ sich schon am frühen Abend mit Rotwein versüßen, so dass er sich auf körperliche Erfahrungen, wie sonnenheißer Haut, Mückenstichen, Muskelkater vom Laufen, Muskelkater vom Radfahren, Muskelkater vom Schwimmen, nächtlichem oder frühmorgendlichem Masturbieren konzentrieren konnte.
Aus Ermangelung eines Fernsehers las er Unmengen von Zeitungen auf der Dachterrasse und erfuhr so mehr über erfolgreiche Künstler und deren Auftritte in der deutschen Medienlandschaft als ihm lieb war. Es gab sie, die Erfolgreichen, sie reisten in der Welt herum, inszenierten plötzlich sogar Opern, was er sich immer sehnlichst gewünscht hatte, trugen Maßkleidung und redeten unverblümt hohlen Unsinn über die Sinnlosigkeit von Geld und den Segen, den die Gesellschaft an ihrem feinsten und edelsten Geschlecht hätte, den Künstlern.
Sie hatten Assistenten, vereinzelt schon mal fünfzig Stück auf einmal und ließen sich munter lächelnd zwischen ihnen wie in einer Schar Kinder ablichten. Was für ein Segen, was für ein Glück und so viel Ausdruck und wundervoll genutztes Potential.
Eine wohlige Welle wollte sich in seinem Gemüt bei dieser Lektüre nicht breit machen.
Es war zu viel Glück, zu viel „sich durchsetzen auf dem Markt“, wie es ein bekannter Chefredakteur einer allseits bekannten Kunstillustrierten für unbekannte Seidenmalkursbesucherinnen einst genannt hatte: „Wenn sich ein junger Künstler erst auf dem Markt durchgesetzt hatte, dann …, ja dann, dann …
Dann konnte er davon ausgehen, dass dies ein für ihn verpasster Akt sein musste.
Die letzte Ausstellung wurde trotz räumlicher Entfernung von vielen seiner Freunde gesehen, man besuchte sie, weil man ihn mochte, sogar sein fünf Monate altes Patenkind war da.
Die Eröffnung hatte familiären Charakter, sein Freund war da und ein paar Freunde des Ausstellungsorganisators, dessen Freund, ein Psychologe, wollte sogar einen Text über die Arbeiten verfassen. In einer Preview hatte er beglückt festgestellt, seine Exponate und der Ausstellungszusammenhang seien wirklich überzeugend. Ein künftiger Förderer?
Neue Perspektiven sich mit intelligenten und sensiblen Menschen über die Komplexität des Kreativen auseinanderzusetzen?
Seine Knie schmerzten da noch recht ordentlich, jetzt, nach vielen Stunden mit Nordic Walking Stöcken im weichen Sand, fühlten sie sich spürbar besser an. Im letzten Jahr bei einem Besuch der angeblich zeitgeistig angesagten Galerien im Viertel um die Auguststraße in Berlin, in welchem sich die Menschen einem ruhigen, gesättigten und doch inspirierten Denken und Leben widmen könnten, hatte er noch starke Schmerzen und nur noch sehr wenig Sex mit seinem Freund.
Sex mit schmerzenden Knien ist sehr kompliziert, fast unmöglich. Er zwingt einen reglos zu bleiben und zu hoffen, dass die Schmerzen für die nächsten Minuten nicht wieder auftauchen. Unvereinbar mit seinem eher drängenden Naturell.
Der Eindruck, den die Ausstellungen und Galerien hinterlassen hatten war dem Schmerz in den Knien ähnlich gewesen, bornierte Angestellte oder Betreiber, deren Fähigkeit oder Bereitschaft zur Kunstvermittlung gegen Null ging und sich sicher nicht vorstellen können wie man sich fühlt, wenn man einen hellen Ausstellungsraum betritt und von einer strategisch günstigen Stelle aus von einer fremden Person, die an einem Schreibtisch sitzt, gemustert wird. Von den gezeigten künstlerischen Arbeiten ganz zu schweigen, so unsinnlich, so ungekonnt, aber es gab Ausnahmen …
In dieser Zeit intensivierte sich sein Nachdenken über das Scheitern.
Die Intensität der Empfindungen stumpfte ab. Es gab in erster Linie das Ziel durch den Tag, die Woche, den Monat zu kommen. Sein Geliebter war sehr geduldig mit ihm, er war nicht so geduldig mit ihm. Der Geliebte verzog sich etwas um Abstand zu bekommen, da hatte er noch etwas, was er vermissen konnte.
Er wollte sich selbst spüren und konnte es eigentlich nicht ertragen.
Er wohnte zwischen der Autobahn und dem Flughafen. Der Lärm erinnerte an das Rauschen der Brandung, die Wände der Autobahnunterführungen waren mit dümmlicher Graffiti zugesprüht. Durch sie hindurch gingen die idiotischen Jugendlichen, die sie aufgesprüht hatten. Er konnte zu Fuss zum Abflug gehen um jemanden in einer anderen Stadt besuchen zu fliegen. Das hatte er vor dem Knie Problem häufiger gemacht, dann erstmal nicht mehr. Das lag auch daran, dass das Geld immer knapper wurde. Seitdem er freiberuflich ohne festen Nebenjob versuchte zu überleben, kam immer weniger in die Kassen. Aber er hatte die Knechtschaft unter schwachsinnig verblödeten und darum sadistischen Chefs gegen eine Knechtschaft unter seine eigenen Ängste ausgetauscht. Diese Entscheidung zwang ihn zum Nachdenken und zum In-Frage-stellen.
Er entwickelte sich, dachte er, aber alles wurde sehr anstrengend.
Er versuchte sein Verhältnis zu Galeristen zu verbessern, zu denen er bisher keines gehabt hatte. Er versuchte das bei einem von der EU geförderten Coaching, bei dem es ihm wichtig war, dass es keine Therapie wurde, in Wirklichkeit war es von Anfang an eine.
Dabei fiel ihm unter anderem auf, dass er sich das Aussehen von Galeristen wie das seiner Eltern vorstellte, rätselhaft und sinnlos.
Er dachte manchmal an den Tod und traute sich nicht mit anderen darüber zu sprechen.
Wie sollte man da angemessen eintauchen, ohne anzuecken?
Entweder sie glaubten, man wolle sich umbringen oder sie fanden, man mache sich wichtig mit einem Tabuthema. Ein Testament hatte er vor einigen Jahren gemacht, es aber vor kurzem wieder zerrissen, er konnte sich niemanden vorstellen, dem ein Erbe seiner Sachen nicht wie eine Bürde erscheinen könnte. Und einen der Hauptbegünstigten hatte er bewusst aus seinem Lebensfokus entfernt.
Das Anhören trauriger Musik brachte sein Nachdenken über das Leben und den Tod zum unmittelbarsten Moment, er weinte allein für sich, ganz undifferenziert, in Gedanken an seinen eigenen Tod und das viele Pech, was er gehabt haben musste um so zu scheitern. Er ließ die Merkwürdigkeiten seines Lebens passieren und bemitleidete sich dabei hemmungslos und stets mit der Schlussfolgerung, dass er auch nicht wüsste wie es anders weitergehen müsste, aber dass es zu viele Dinge gäbe, die ihn vom Fortgehen abhielten. Dazu gehörten seine Eltern und sein Geliebter, dem er in einer weiteren Geschichte des Scheiterns, des Scheiterns in der Liebe, trotz vielfacher Unsicherheiten, ein großes Potential beimass. Er glaubte an diese Beziehung, auch wenn er schon an andere geglaubt hatte, die sich dann als Odyssee der unerfüllten Wünsche und angetanen Hässlichkeiten entpuppten. Er hatte sich vorgenommen, die Rituale, die er bei anderen lange Zeit als Lügen und Erkenntnisverhinderer wahrgenommen hatte, selbst zu bemühen. Er dachte an eine Ehe, an eine institutionalisierte Liebeserklärung. Die Familiengründung konnte er als „Homo“ und in dieser Hinsicht ebenfalls gescheiterter biologischer Mann natürlich vergessen. Aber etwas von Dauer und eigener Entwicklungsdynamik sollte möglich sein. Sein Geliebter könnte ihm dort andere, fremde Perspektiven vermitteln, die andere Wertesysteme hervorgebracht hatten.
Oder er würde es sehr bald nach dem Termin der Termine lassen und eine Verpartnerung würde das Scheitern seiner voraussichtlich letzten angeblichen Liebe, er nahm an, dass er mit vierzig Jahren und mehr kein weiteres Mal jemanden finden würde, der ihn attraktiv und liebenswert fände und dem er selber auch nur ein Quentchen wahrhaftige Gefühlswelt zugestehen wollte, nur noch perfekter und endgültiger machen, gewissermaßen ein Scheitern vor der Welt und seiner Familie. Er bedurfte eigentlich nur noch des Gesichtsverlustes vor seinen Freunden und seiner Familie. Dann würde er bereit sein abzusteigen, irgendwohin, wo man als Ausschuss der Gesellschaft landete, Obdachlosigkeit, Alkoholismus, psychische Degeneration.
Ja, so würde es sein, es müsste rasch und kaum wahrnehmbar stattfinden, schließlich blieb am Ende noch das Scheitern im Scheitern, wenn keiner es merkte und niemand Mitleid empfinden könnte und keiner sich wundern könnte, weil sich niemand darum Gedanken machen würde.
Aber da gab es ja noch die wundersame Welt der anderen, jenen, die sein Leben kreuzten und denen er Sympathie entgegenbrachte und mit denen er Dinge teilen wollte, Eindrücke, Reflexionen, Wirklichkeits- und Traumbetrachtungen, derer er selbst fähig war und welche er wegen ihrer Gleichheit oder Unterschiedlichkeit bei anderen suchte. Das ganze Universum wollte gedacht werden und jene versuchten es auch zu denken, so wie er oder anders. Leider war ein Scheitern in diesem Austausch unvermeidbar. Er wurde konfrontiert mit ihm unbekannten Bedingungen und Zwangsläufigkeiten. Jene anderen wollten ihn nicht bloß kennenlernen um etwas über sich selbst zu erfahren, nein, sie wollten ihn besitzen, wollten ihren eigenen Käfig mit ihm teilen.
Mit Verlaub, wer will das schon? Wer will schon vereinnahmt werden, wenn er bereits vereinnahmt wurde und keinerlei Potential mehr dafür vorhanden ist? Nun, alle sind egoistisch, das schien eine wünschenswerte, weil überlebensnotwendige Eigenschaft zu sein. Und alle belogen sich selbst, indem sie sich immer nur eine geschönte Wahrnehmung zumuteten. Das war selbst im Angesicht des Scheiterns zwangsläufig, die ganze nackte Wahrheit konnten die Menschen nicht ertragen, vielleicht über andere, aber nicht über sich selbst.
Anstatt sich dem Scheitern hinzugeben, begann er schon wieder Pläne zu machen gegen die ihm bekannten Gummiwände anzurennen und im bereits bekannten Ausmaß von ihnen abzuprallen, sie waren undurchdringlich, die Wände zu Ausstellungen, Stipendien und Kunstpreisen, die Wände zu Anerkennung, Rezeption und Würde.
Die, welche behaupteten, dass sie ihn besonders in ihr Herz geschlossen hätten, wo wir wieder im Bild des eigenen oder fremden Käfigs waren, wollten ihm manchmal beim Anrennen gegen diese Wiederstände helfen, weil sie annahmen, dass er oder seine Arbeit es wert waren, befördert zu werden. Ein eher romantischer Impuls brachte sie so weit, ihn bei anderen, nur ihnen zugänglichen Eingangstüren anzumelden, damit er weiter gehen können möge und ihren Eindruck bestätige, er hätte tatsächlich Talent und dies würde auch wahrnehmbar sein …
Jedoch verliefen diese Beförderungen niemals bedingungslos und dies störte ihn zunächst nicht, warum auch, hatte er nicht viel zu geben, konnte er nicht nett sein, Geschenke machen und einfach Glück verbreiten?
Ja, das konnte und wollte er. Aber sie wollten mehr von ihm, sie wollten mit ihm die Dinge verändern, die sie selbst nicht in den Griff bekam. Er wurde für das Scheitern der Anderen instrumentalisiert. Das war sein Tribut für ihre Liebe und ihr Bemühen ihn zu unterstützen und damit sei eigenes Scheitern abzumildern.
Um seinen Körper zu trainieren pflegte er über Jahre Sportstudios aufzusuchen und sich dort dem Training seiner Kondition und seiner Muskulatur zu widmen. Es war das konzentrierte Umgehen mit dem eigenen Körper, welches ihn zu sich selbst brachte, die Konzentration auf das vegetative System, die Schmerzen beim Ausreizen der Belastungsgrenzen. Er liebte sich selbst am meisten und was lag da näher, als seinen Körper begehrenswert zu machen, ihn zu verändern und davon zu profitieren, wenn eine plötzliche Endorphinausschüttung alle Sorgen vertrieb und er aus dem Fenster schauen konnte, sich den Schweiß abwischte und dachte: „Alles wird gut werden!“ Ein Zustand, der selbstredend nicht von Dauer war, aber sich wiederholen ließ.
Seine Knie verziehen ihm sein regelmässiges Joggern durch den Park nicht. Das Laufen war eine passable Möglichkeit an die Luft zu kommen und den Körper auf 100 % Leistung zu bringen, das Ermüden danach kam wie eine Belohnung: „Du hast dich angestrengt, deshalb darfst du nun ruhen“. Ein einfacher Mechanismus, der offenbar scheitern musste, wenn er an seine Knie OP dachte, bei der er dem Chirurgen auf einem Monitor zuschauen konnte, wie er eine Schlaufe um seinen gerissen Meniskus legte. Was danach kam war entsetzlich und er hatte solche Schmerzen bisher nur ein einziges anderes Mal kurzzeitig erlebt, der Eingriff verschlimmerte sein Leiden deutlich und er konnte nach der durchschnittlichen Rekonvaleszenzdauer nicht mehr so laufen wie vor dem Eingriff, nein, es war schmerzhafter geworden. Er machte einen Anlauf in einem medizinisch ausgerichteten Sportstudio. Am Anfang dachte er, es würde ihm helfen, aber nach einiger Zeit bemerkte er, dass es ihm weder half, noch entspannte. Im Gegenteil, das präzise Notieren seiner Trainingsergebnisse machte ihn traurig, weil er einsah, dass er mit diesem System niemals mehr unbeschwert Sport machen konnte. Er saß auf den Maschinen, wie ein Tier im Versuchslabor und die aufgesetzte Freundlichkeit des Personals erinnerte ihn mehr an eine totalitäre Diktatur als an eine überzeugendes Dienstleistungsunternehmen.
Er war umgeben von unglücklichen Menschen, die schmerzende Körper hatten und schnell wieder aus den Exerzitien entlassen werden wollten. Die körperbezogenen Handlungen wirkten hier nicht erregenden, sondern beklemmend.
Außerdem bemerkte er, dass sich sein Zeitempfinden, seitdem er ausschließlich freiberuflich arbeitete, verändert hatte. Er wollte sich nicht mehr einfach nur noch Entspannen, seine Tage kamen ihm viel zu kurz zum Leben vor und er konnte sich nicht aufraffen zu Dingen, die er früher ohne ein Bedenken für gut erachtete. Jetzt wollte er alles auskosten, besonders sich selbst, das Dasein, das Nachdenken und das zwangsläufige Scheitern. Er wollte sich immer wieder neu zusammen setzen, auch wenn er wusste, das dies ein endlicher Vorgang war. Er musste versuchen Geld zu verdienen und das war recht kompliziert. Komplizierter, als er dachte
Das abgeschnittene Ohr, welches er auf sein T-Shirt drucken wollte, gab ein gutes Bild für seinen Zustand ab. Er war sowohl geistig, als auch körperlich verletzt und konnte damit doch ruhig und konzentriert umgehen. Die Reminiszenz an das völlige Scheitern eines Künstlers, der in seinem Werk erst posthum grenzenlose Anerkennung erfahren hatte, wurde ihm zum Sinnbild einer vagen Hoffnung. Schließlich war alles im Leben vage.
Hagen Rehborn © 2007