Momente
Er saß im oberen Drittel des mittleren Blocks und hatte den Platz für dieses Konzert ganz bewusst ausgewählt. Hatte man in den steil ansteigenden Sitzreihen von dort aus doch einen ausgezeichneten Blick auf die Bühne und das gesamte Orchester und befand sich akustisch in idealem Abstand.
Die halbrunde Bühne war bis auf den letzten Platz mit Instrumenten, Stühlen und Notenständern bestückt.
Die Komposition verlangte nach einem umfangreichen Aufgebot an Becken, Trommeln und Streichern.
Die Reihen des Zuschauerraumes füllten sich wie stets erst nach der dritten und letzten Fanfare gänzlich, ein Verhalten, welches das Publikum erst in den letzten Jahren entwickelt hatte, war man doch in seiner Wahrnehmung früher schon nach der ersten Fanfare in einen halbwegs gefüllten Saal gekommen und nach dem dritten Signal kamen dann nur noch abgehetzt Verspätete.
Das Konzert war laut Information am Eingang ausverkauft.
Ein paar Stehplatzkartenbesitzer suchten trotzdem in den Reihen nach freien Plätzen und wurden wie immer fündig, schließlich gab es unverständlicher Weise stets einige Abonnenten, die ihre Karten verfallen ließen.
Sein Interesse galt denen, die in unmittelbare Nähe zu ihm saßen, jenen also, mit deren Verhaltensweisen er während des Konzertes unweigerlich konfrontiert sein würde.
Wenn sie sich ruhig und entspannt hinsetzten, nicht sprachen, nicht über ein Meter fünfundachtzig groß waren, nicht stanken, sich nicht im Rhythmus der Musik bewegten und wenn sie keine kleinen Kinder waren, dann mochte er sie.
Er hatte leider schon unerträgliche Sitznachbarn erlebt, die sich wie die Vandalen aufgeführt hatten, ohne, selbstredend zu wissen was ein Vandale war.
Kinder in klassischen Konzerten waren der Alptraum seiner schlaflosen Nächte.
Er mochte Kinder wenn sie still, introvertiert und hübsch waren, wenn sie kluge Fragen stellten und nicht laut wurden, wenn sie sich nicht schmutzig machten und wenn sie sich nicht zu hektisch bewegten.
Zu seiner Rechten nahm eine Frau in den Fünfzigern Platz, die in einen cremefarbenen Hosenanzug gekleidet war und dazu eine weiße Bluse mit vielen Perlen als Kette trug.
Beim Betrachten der Dame steckte er seine Hand in die Hosentasche und fand_ irritiert einen von ihm geschriebenen Zettel, den er zerknüllt eingesteckt zu haben schien.
Er strich das Papier glatt und las eine von ihm verfasst Liste einheimischer Pflanzen:
1. Tollkirsche - Atropa belladonna;
2. Roter Fingerhut - Digitalis purpurea;
3. Gepfleckter Schierling - Conium maculatum; 4. Herbstzeitlose - Colchicum autumnale; 5. Blauer Eisenhut - Aconitum napellus; 6. Schwarzes Bilsenkraut - Hyosyamus niger;
7. Safrangelbe Rebendolde - Oenanthe crocata;
8. Stechapfel - Datura Sramomium;
9. Lorbeerseidelbast - Daphne laureola und 10. Spanischer Ginster - Spartium junceum.
Er hatte einige diese Pflanzen vor ein paar Wochen in seiner Gärtnerei bestellt und bemerkte irritiert, dass sie sich nicht mehr bei ihm gemeldet hatten.
Es schien so, als müsste er da am Montag nochmals vorbeifahren.
Die Frau in Creme hatte ihre dicke, sehr große Brille abgenommen und an einer Kette hängend auf ihrem Decollté abgelegt, so dass man ihre Halsfalten durch die aufrecht stehenden Gläser deutlich vergrößert, wie zwei Fenster rechts und links auf ihrem Busen stehend, sehen konnte.
Ihre Wimpern waren, wie bei vielen Frauen über fünfzig, etwas von der Wimperntusche verklebt, weil sich die feinen Härchen nach den Wechseljahren manchmal in unterschiedliche neue Richtungen verbogen und dann nicht mehr
so leicht zu färben waren. Es gab ihnen stets das etwas lädierte Aussehen, welches junge Frauen nach einem Weinkrampf hatten, nur dass man es in ihrer Altersklasse für gewöhnlich und nicht für sonderbar hielt.
Die Brillenkette hatte sich mit der mehrreihigen Perlenkette verwirbelt, so dass eine Reihe in Richtung zu rechten Schulter etwas in der Luft schwebte.
Die Brillenkette war aus transparenten Kunststoffgliedern und unter den Perlen kaum zu erkennen.
Er erinnerte sich daran, gelesen zu haben, dass die Einwohner Polynesiens große Tahitiperlen zermahlten, um das daraus gewonnene Perlmutpulver als Aphrodisiakum mit Honig einzunehmen.
Heilsame Dinge sind kostbar, haben aber wenig mit unserem Glauben an zeitlosen Wert zu tun, sie waren stets Moment der in eine Zukunft weist, wie Musik, fand er.
Die Musiker betraten den Bühnenraum und das freudlos gekleidete Saalpersonal schloss die Türen.
Zuspätkommende würden nur noch den dafür vorgesehenen Balkon betreten dürfen und auch nur an Stellen des Konzerts, die ein Öffnen der Türen unbemerkt zuliessen.
Eine Regelung die sehr im Einklang mit seiner Auffassung von der Würde des Augenblickes stand.
Die Musiker nahmen ihre Plätze ein.
Das etwas unbestimmt anmutende Rücken der Stühle, das Befingern der Instrumenten und von Lächeln begleitete Kollegengespräche wurde bald vom Aufstehen des ersten Violinisten beendet, der den Ton zum Einstimmen vorgab.
Der Dirigent betrat die Bühne.
Er erklomm eine Art kleine Empore, mit einer Absperrstange im Bereich des
Rückens. Applaus kam auf, er verbeugte sich und kehrte dem Publikum den Rücken zu. Das Licht im Zuschauerraum wurde gedimmt.
Er hob die Arme und begann, den Taktstock in der Rechten, zu dirigieren.
Die Musik setzte leicht zeitversetzt ein und überschwemmte den Konzertsaal sofort mit ihrer immensen Kraft, wie ein Strom, der ein Stück Land überflutete.
Er kannte jeden Ton, der nun gespielt wurde auswendig. Er verkrampfte sich ein wenig, in der bangen Erwartung, etwas könnte sich anders anhören, als er es für angemessen hielte.
Nach wenigen Minuten war der Bann aber gebrochen.
Er wusste nun, dass dieses Orchester eine Interpretation spielte, die er interessant und überraschend fand. Selten hatte sich herausgestellt, dass der erste Eindruck dann doch noch in eine Enttäuschung führen konnte.
Der erste Satz verlief für ihn sehr beglückend, die Kraft der Musik trug seine
Gedanken hinfort und die Töne lösten in ihrer Abfolge unmittelbare Empfindungen wie Trauer, Freude und Euphorie aus.
Nach dem Ende des Satzes und der darauf folgenden kurzen Atempause,
hustete man im Publikum vereinzelt, jemand in einer der vorderen Reihen schien kurzzeitig eine Art Keuchhustenattacke zu erleiden, beruhigte sich aber mit dem erneuten Heben des Taktstockes durch den Dirigenten sehr rasch.
Der dicke Mann zu seiner Linken kratzte seine Hose im Kniebereich ...
Zwischen ihnen war ein Platz unbesetzt geblieben.
Der zweite Satz begann fulminant.
Die Becken wurden in Schwingungen versetzt und die Kontrabassisten arbeiteten sich in ihrer unnachahmlichen Halbsitzstellung auf einer Art Barhocker an ihren riesigen Instrumenten mit sägenden Bewegungen ab.
Plötzlich schlug etwas gegen sein Bein.
Er wendete sich irritiert nach rechts.
Die Sitznachbarin in Crème hatte ihr Bein starr in seinen Fussbereich gestreckt.
Sie war in ihrem Sitz nach unten gerutscht, so dass sich ihr Gesicht durch die Sitzlehne gestützt etwas zu ihm gewandt hatte.
Das Kinn berührte ihre Brust und ihre abgerutschte Brille hatte sich dazwischen verkeilt.
Die Kontrabässe und Becken vereinigten sich in einer gewaltigen Klangflut.
Er versuchte vorsichtig ihr Bein bei Seite zu schieben, sie schien keinen Wiederstand zu bieten und kippte mit ihrem Oberkörper seitlich über die zwischen ihren Sitzen befindlichen Armlehnen gegen seine Schulter.
Verstört erhob er sich aus seinem Sitz und versuchte sie mit seiner rechten Hand zurückzuschieben.
Ihr Kinn verweilte merkwürdig auf der Brust und nun sah er, dass aus ihrem Mund Speichel tropfte, der sich in einem der Brillengläser fing.
Das Orchester erklomm den gewaltigen Höhepunkt in der Mitte des zweiten Satzes. Hörner erschallten.
Er sah sich entsetzt um.
Eine Person in der Reihe über ihm beugte sich nach vorne und versuchte zu ergründen was vor sich ging.
Er hielt die Frau an den Schultern fest und schüttelte sie leicht, sie rutschte weiter nach unten, ihr Gesicht berührte seinen Bauch.
Er sprach verzweifelt: „Oh Gott! Hilfe!“. Aber seinem Mund entwich nur eine Art Krächzen.
Ihr Leichnam sackte vor ihm auf den Tribünenboden.
©Hagen Rehborn 2010