Dienstag, 23. Januar 2007
Jetzt ( Teil 1 )
Von einer Ägyptenreise mit einer Freundin brachte sie ihm eine transparente Pyramide mit, in der einst ein goldener Kunststoffkugelschreiber Platz gefunden hat, den sie aber während der Reise bereits verlor, nach ihrer Aussage schrieb er aber eh unzureichend und nachdem sie ja nur zu gut wußte, dass er sich bemühte stets nur mit Bleistifft zu schreiben, schien ihr dieser Makel wenig ins Gewicht zu fallen.
Diese Pyramide war ungefähr so gross wie eine Feldmaus und bestach durch eine absonderlich pitoreske Füllung. Im Inneren stand ein goldfarbener Nofretete Kopf, um den, bei intensivem Schütteln, eine Art Goldregen aus glitzernden Elementen schwirrte. Die Teilchen senkten sich dann schnell wieder zum Fuß der Nofretete. Beim Schütteln entstand eine Schaumwoge, die im oberen Drittel eine Art Wolkendecke bildete und sich nur sehr langsam zurückbildete. Nefer Nefer Titis, die Schönste der Schönen, der Schönen.
Die Norfretete war stets etwas unscharf im Auge des Betrachters, das dicke Plexiglas der Pyramidenhülle brach die Schärfe der Durchsichtigkeit an mehreren Stellen.
Es war eines der aktuelleren Mitbringsel und er hatte sie auf dem Heizkörper in seiner Küche aufgestellt, wo die Wärme den Goldregen tatsächlich ohne mechanische Kraft zum Tanzen brachte, das warme Wasser wälzte ihn um.
Sie sah die Pyramide dort stehen und lachte ein bischen über die Lächerlichkeit des Souvenirs und erzählte angeregt über den Aufenthalt im Hilton Hotel in Kairo, in dessen Räumlichkeiten sie sich wegen der großen Hitze und den aufdringlichen einheimischen Männern dort hauptsächlich aufhielt. Bei einem Ausflug nach Gizeh, der sie sehr beeindruckt hatte, erstand sie die Nofretete bei einem Straßenhändler dicht am Taxistand. Der Verkäufer hatte ein gutes Dutzend transparenter Pyramiden unterschiedlicher Größe auf einem silbrig schimmernden Karnevalsstoff ausgebreitet. Als sie sich zu den Waren auf den Boden herabneigte, unterbrach der Verkäufer sein geschwätziges Gerede. Ihr seidenes Kopftuch hatte sich gelöst und war über die Pyramiden geglitten, so daß sie die spitzen Ausstülpungen eines großen surrealen Pferdekopfes bildeten, der auf dem Tuch abgebildet war. Die Sonne brach sich in den Erhebungen des schimmernden Stoffes und ihr sonst bedecktes, helles Decolté leuchtete. Der Verkäufer sah sie stumm an, sie hob das Tuch errötend wieder auf, schlang es sich gekonnt um den Kopf und kaufte verlegen die Nofretenkopfpyramide mit Goldlammé in Wasser schwebend. Ohne über den Kaufpreis zu handeln.
2.
„Es gibt diese Tage unendlicher Sinnlosigkeit, in der Ausschnitte und Fragmente der Erinnerung an das, was ich fuer die jüngere oder ältere Vergangenheit halte, zu einem Bild der totalen Stagnation werden.
Was mache ich hier in diesem Scheißleben, in dem man immer nur Rücksichten nehmen muß und ansonsten meist nur Angst um wenig zu fühlen ist, ich lasse es zu, dass nichts Schönes mich betören kann, sondern dass ich mir konstant gedanken über die Einhaltung von Regeln mache, die, wenn ich es auch nur ansatzweise überlege, Regelwerke der völligen Spießigkeit sind. Ich falle einer Form von Zwanghaftigkeit anheim, die sich kein Idiot hätte ausdenken können. Diese Idee etwas tun zu müssen, damit man eine Existenzberechtigung hat ist lächerlich, ich bin und das ist mein Problem. Was soll ich hier in dieser Welt? Spaß haben, Verantwortung für die Ängste anderer übernehmen? Mich gesund verhalten, gepflegt aussehen und in sauberen Räumen wohnen. Mehr ist schon fast nicht nötig, um die Zeit rumzukriegen, dann noch ein paar Freunde, die sich über irgend welche Lapalien unterhalten wollen, ein wenig Leiden und zum Arzt gehen. Eine Liebe leben, die sich von selbst lebt und in erster linie von Versuchen der Abgrenzung getrieben wird. Welche Perspektive nach vielen gescheiterten Lieben hat man denn? Das Prinzip „Hoffnung“ ist irgendie erbärmlich, nichts zeugt davon, daß es Grund dazu gäbe. Diese Gesellschaft ist verroht, korrupt und mittelmässig, all jene, die unsere Kultur zu einem Höheren bringen könnten sind von einer clique sozialer Ellenbogenvirtuosen kalt gestellt worden. Die guten und talentierten gewinnen fast nie.
Das ist meine Wahrheit und sie verdüstert sich von Jahr zu Jahr. Ich will weg von Menschen und ihren Ritualen. Das ist der Wunsch nach dem Ende.“
3.
„Ich fahre diese endlos durch die Landschaft schnurrende Lärmschutzmauer der ICE Strecke nach Frankfurt entlang, die Ernüchterung der Landschaft hat etwas Brutales, die Betonelemente sind vollgesprüht mit sinnentleerten Signaturen total gestörter Vollidioten, die meinen durch das Anbringen ihrer Namenskürzel sich und der Umgebung eine bereicherte Identität zu verleihen. Wer hat diese krankhafte Verhaltensweise in die Welt gebracht. Überall dicke, für den Betrachter sinnfreie Buchstaben mit Sprayflaschen an erreichbare Flächen anzubringen? Wer will in diesen Feldern der Endzeit, mit wilden Müllkippen an jedem landwirtschaftlichen Schotterweg und entsetzlich häßlichen Einfamilienhausneubausiedlungen mit bereits in der Planungsphase angeschütteten Lärmschutzwällen noch mehr von „Ich will ein Mensch sein, der Spuren hinterläßt“ sehen müssen? Die Strommasten, die Landschaftspest des zwanzigsten Jahrhunderts durchkreuzen grob den Himmel, am Horizont der aufsteigende Dunst der am Fluß gelegenen petrochemischen Anlage, davor ein Golfplatz und wenige Restfelder, auf denen die dunkelgrüne Wintersaat wächst, auch wenn man jetzt eher findet, dass hier nichts mehr wachsen sollte, was nicht als Bergkrüppelzwergimmergrünkonifere einen Garten langweilen darf. Kiesgruben hier und da, von Zäunen umgeben, mit Schildern von Angelvereinen und anderen Zwangsveranstaltungen bürgerlicher Barbarei geziert: Betreten verboten! Schwimmen verboten! Frei sein verboten! Genießen verboten! Wegbleiben!
Man sollte unentwegt fahren, laufen und rennen, niemals verweilen, keine Brombeersträucher mit zerbrochenen Gartenstühlen anschauen, sondern nach vorne, immer nach vorne und wenn es nicht weitergeht, Tod, Tod, sich auflösen.
Ich sehe den ICE nie, ich fahre nur zu meiner Physiotherapie in diese Klinik, die aussieht wie ein weiß verputztes Mietshaus, mit dem überfüllten Wartezimmer und dem abgestandenen Geruch. Durch diesen riesigen dunkeln Steinflur, in dieses Behandlungszimmer, was aussieht wie ein ruiniertes Büro, mit diesen fürchterlichen modernen, abscheulich geschmacklosen Büromöbeln, den schlecht gegossenen Standardbürohydrokulturpflanzen, die genausogut aus Plastik sein könnten und dann noch viel frischer aussähen, dem ausgetrockneten Tischspringbrunnen, der eine Allegorie des Wahnsinns sein muss mit seinen eingetrockeneten Kalkrändern, den Bildern an den Wänden, die von mickriegen Seminaren und abgehalfterten Kursen erzählen, auf diese Liege, die bei der Massage meines schmerzenden Beines wimmert wie ein getretener Hund und dem Therapeuten, der sich angeregt mit mir über Gott und diese grauenhafte Welt unterhält.
Erzengelenergie, das wird glücklich machen, mein eigenes Raumschiff von einem Markenhersteller geliefert.“
Ich gehe mehr für „drei Nüsse für Aschenbrödel“, eine belämmerte Eule fliegt um meinen Kopf und scheißt mir auf die Schulter, aus dem Stoff sprießt ein Haselnusskeim, der sofort drei große saftig aussehende Nüsse trägt. Wenn ich die auf die Erde werfe, werden wegweisende Wüsche wahr. Ich werfe die erste Nuss: ganz Mitteleuropa ist wieder dicht bewaldet, auf allen freien Flächen wachsen Bäume, alle Häuser und Fassaden sind mit Kletterpflanzen bedeckt, die ICE Strecke führt durch einen dichten Eichenwald, die Klinik steht in einem feuchten Erlenbruch und an der Bushaltestelle quaken extraterrestische Laubfrösche…, grün, RGB-grün, die herrschende Farbe…
Die zweite Nuss werde ich mit einem Nusskancker aus DDR Zeiten versuchen zu öffnen, zuerst wird der Bart aus weissem Nylongewebe, schlecht angeklebt, abfallen, dann beim ixten Versuch wird der Mechanismus völlig versagen und die Kieferachse wird aus der Verankerung der blau eingefärbeten Holzschulter brechen, die runde Fußscheibe wird sich lösen und die Beine werden sich quietschend spreitzen, so dass der Torso zu Boden fällt, die unversehrte Nuss wird meinen Fuß kennenlernen und siehe da, mein zweiter weiterführender Wunsch geht in Erfüllung, ein wohlgefüllter Kleiderschrank mit gutgeschnittener Herrenmode aus erstklassigen Stoffen, von dem kein Teil mehr richtig passt, mein schmerzendes Knie und die daraus erwachsende Bewegungslosigkeit hat mich zu einem fetten Schwein werden lassen.
Klar, dass ich auf der Liege eingeschlafen war, nun aber wimmernd erwache, weil der Therapeut zu feste zugegriffen hatte.
Was bleibt ist der Wunsch nach einer dritten Nuss und einer von einem guten Präparator fixierten Eule, die ich zuvor auf einer Schnellstraße einsammeln konnte und einige Monate in der heimischen Tiefkühltruhe zwischengelagert hatte…
Kennst du das Land wo die Zitronen blühen? Ja, und zwar in dem noblen Blumenshop der Innenstadteinkaufspassagen. Zehn bis zwanzig Uhr.
4.
Das Publikum strömte durch das Foyer, vor dem Eingang entleeren sich die Konzertbusse aus der Provinz. Concertgebouw Orchester Amsterdam unter „wem auch immer“, „der Klang der großen weiten Welt“, die wahre Provinz trifft auf die eigentliche.
Er verharrte einige zeit vor dem CD Verkaufsstand, der regelmässig zu den Konzerten von einem langweilig aussehenden Studenten betreut wurde. Schon bei der Kartenkontrolle überkam ihn diese Mischung aus Angst und Ekel vor der abartigen Durchschnittlichkeit dieser Leute, diese unbegreifbaren Langeweiler, deren wirkliches Interesse nicht in der Musik liegen konnten, sondern in der profanen Einbildung etwas zu erleben, was die Sinnlosigkeit ihrer Existenz scheinbar oder tatsächlich erträglicher zu machen schien. Er kannte die durchschnittlich fünfzig verschiedenen ausgestellten Tonträger allemal, sei es, dass er sie schon mehrfach verächtlich wieder in die Auslage zurück gelegt hatte, nachdem ihm die Einzelheiten der Einspielungen völlig missfielen, sei es, dass er sie unterdessen hier oder in einem Fachgeschäft selber gezielt erworben hatte und schon am Cover, ohne sie berühren zu müssen, erkennen konnte, dass er sie bereits besaß oder für zu unspeziell erachtete, wobei er letzteres zumeist an der Popularität eines Werkes festmachte, zu bekannt war für ihn zu unspezifisch und zu gemein.
Er schaute dem dicklichen jungen Mann nicht direkt in die Augen und dachte sich, dass dieser ihn sicher nicht erkannte, obwohl er bereits unzählige Male etwas an seinem Stand erworben hatte. Dieses auch für ihn zeitweilig als eingebildet erkannte Gefühl von „nicht beachtet werden“, versuchte er früher durch exzentrische Kleidung abzuschwächen, aber der fahle Nachgeschmack eines Blickes, der an einer auffälligen Jacke und nur sehr kurz an seinem Gesicht hängen blieb, brachte ihn bald zu einem dezenteren und sehr distinguierten, im Detail besessenen Kleidungsstil, der durch und durch von der Idee der Siluettenperfektionierung und des Materialkomforts bestimmt wurde. Polohemden aus marcerisierter Baumwolle mit Perlmutknöpfen, Anzüge die maßgenau saßen oder zumeist Jeanshosen, die sein Gesäß betonten, mit Jackets, die hinten oder besser seitlich geschlitzt waren und einreihig geknöpft wurden, also ganz à la mode. Bartók Einspielungen gab es hier gar nicht, obwohl das „Konzert für Orchester“ heute gespielt wurde.
Er hatte bevor er in die Eingangshalle schlenderte vor dem Eingang noch ein wenig das Schaufenster des überteuerten Wohnobjektegeschäftes betrachtet und versucht seine Siluette im Schaufenster zu erhaschen, dies auch, weil eine Sitz und Passkontrolle im Konzertsaal erfahrungsgemäß unangenehm wurde sobald jemand die mit Spiegeln ausgestatte WC Anlage betrat und das geschah selbstredend vor dem Konzert ständig, ganz zu schweigen von der großen Spiegelwand im Foyer, direkt links hinter dem CD Verkaufsstand, in der ein Blick auf sich selber zu peinlichem Erröten führen musste, fand er sich doch im ersten kurzen Augenblick stets extrem unattraktiv und benötigte einige Zeit um sich annehmbar zu finden und dass immer unbeobachtet, was in diesem Foyer unter all diesen Besuchern selbstverständlich unmöglich war.
Er fragte sich, ob seine Geliebte Gefallen an einer neuen, anderen Armbanduhr finden würde. Wäre sie in der Lage die jetzige sehr kostbare, ein Geschenk ihrer Mutter zum achtzehnten Geburtstag, seiner Meinung nach eine Verlängerung der Nabelschnur, durch eine andere Uhr auch nur gelegentlich zu tauschen, gewissermaßen diese zu Organ gewordene Metallspange amputieren und und in einer Frischhaltebox im Kühlschrank für zumindest wenige Stunden auskühlen zu lassen? Sie trug diese Uhr sogar beim Geschlechtsakt, jedenfalls, wenn sie mit ihm schlief und beim Blick ins Schaufenster versuchte er sich ihren nackten Körper mit einer der ausgestellten Uhren vorzustellen.
Ihre haarloser Haut würde durch das neue Schmuckstück unmittelbar verändert aussehen, aber ihre Stilsicherheit ließ nur sehr gelegentliche Ausrutscher ins Ungewisse zu und diese nur einmal, weil ihr Gespür für das eigene Erscheinungsbild sie nicht lange im Stich ließ. Es war dabei nicht ihr Geld, sondern tatsächlich ihr gutes Gefühl, wie sie ihren lasziven, leicht kantig wirkenden Körper besonders unterstreichen konnte. Dabei unterschätze er allerdings den Einfluss, den ihre Freundinnen zu Hause auf sie hatten, dort wußte man einfach, was man anziehen konnte und die Kenntnis über die richtigen Geschäfte, mit denen die richtigen Marken angeboten wurden, wurde gewissermaßen in einem langjährigen Sozialisationsprozess vermittelt.
Bei ihr zu Hause würde diese Gabe kaum Aufsehen erregen, war es doch eine standesgemäße Fähigkeit, die man erwarten konnte, wenn man sich sicher in der Gesellschaft bewegen wollte.
Hier, eintausend Kilometer nördlicher, fiel es auf, man nahm sie wie eine Reisende war, die sich nur kurz aufhalten wollte um bald wieder in die Ferne zu fliegen.
Er drehte sich wieder dem Haupteingang zu und schritt energisch auf die geöffneten Glastüren zu.
Es ertönte schon das zweite Mal die Fanfahre, welcher zum Einnehmen der Sitzplätze gemahnte.
Vorbei an den Spiegelwänden, dem dicken Studenten am CD Stand, ins Untergeschoss, an den Garderoben und ihren gelangweilten Mitarbeitern vorbei, die er nur in äußerster Not im Winter bei großer Kälte nutze, vorbei an der Programmverkäuferin, die nie genug Wechselgeld hatte und die er links liegen ließ, er besaß hunderte dieser überteuerten Heftchen und langweilte sich meist mit ihnen, gelang es doch höchst selten, dass ihm jemand etwas Neues oder Überraschendes über eine Komposition oder einen Interpreten zu vermittelt wüsste oder grundsätzlich seine Aufmerksamkeit zu fesseln und nicht seinen Blick durch den Saal schweifen zu lassen, war es doch viel zu interessant vor dem Konzert und nachher in den Pausen die Leute zu beobachten, welche meinten sie müssten die Konzentration echter Liebhaber der Musik durch ihre bloße Anwesenheit stören...
Er saß im oberen Drittel des mittleren Blocks, er hatte den Platz für dieses Konzert bewusst gewählt, man hatte von dort aus einen guten Blick auf die Bühne und das gesamte Orchester, bei diesem Programm wohl in großer Besetzung, die Musikeremporen waren komplett und bis auf den letzten Platz mit Stühlen und Notenständern bestückt. Bartóks Komposition verlangte nach dem kompletten Aufgebot an Becken und Trommeln.
Die Reihe füllten sich wie stets erst nach der dritten und letzten Fanfare gänzlich, ein Verhalten, das sich erst in den letzten Jahren entwickelt hatte, war man doch in seiner Wahrnehmung früher schon nach der ersten Aufforderung in einen halbwegs gefüllten Saal gekommen und nach dem dritten Signal kamen dann nur abgehetzt Verspätete.
Das Konzert war laut Leuchtreklame am Eingang ausverkauft. Ein paar Stehplatzbesitzer suchten trotzdem in den Reihen nach freien Plätzen und wurden wie immer auch fündig, schließlich gab es unverständlicherweise immer einige Abonnement Inhaber, die ihre Karten verfallen ließen. Sein Interesse galt nun sehr den direkt um ihn herum Sitzenden, jenen also, mit deren Verhaltensweisen er während des Konzertes unweigerlich konfrontiert sein würde. Wenn sie sich ruhig und entspannt hinsetzten, nicht sprachen, nicht über ein Meter fünfundachtzig groß waren, nicht stanken, sich nicht im Rhythmus der Musik bewegten und wenn sie keine Kinder waren, dann mochte er sie. Er hatte leider schon unerträgliche Sitznachbarn erlebt, die sich wie die Vandalen aufgeführt hatten ohne selbstredend zu wissen was ein Vandale sein könnte. Kinder in klassischen Konzerten waren der Alptraum seiner schlaflosen Nächte und dies korrespondierte auch mit seiner Abneigung gegen eigene Kinder und den womöglich noch aufkommenden Kinderwunsch seiner Geliebten, wusste er doch, dass Frauen früher oder später doch an Kinder dachten. Sie wollte derzeit sicherlich keine, aber die italienische Familie würde sicher einmal einen Statthalter wünschen, nun gut, den wollte er nicht zeugen, auch nicht, wenn sie dabei eine andere Armbanduhr tragen würde. Im allgemeinen mochten Kinder ihn gerne, weil er sie wie Erwachsene behandelte und in jeder Hinsicht ernst nahm.
Er mochte sie wenn sie still, introvertiert und hübsch waren, wenn sie kluge Fragen stellten und nicht laut wurden, wenn sie sich nicht schmutzig machten und wenn sie sich nicht zu hektisch bewegten.
Kinder in ein klassisches Konzert mitzunehmen, das war eine echte Misshandlung für alle, insbesondere auch für die Kinder, welches Kind sollte denn so etwas aushalten ohne all das zu machen, was jeden in der Nähe Sitzenden in eine terroristische Haltung zu bringen und insbesondere die begleitenden Erwachsenen in ein Arbeitslager unter Erleidung der schlimmsten Qualen zu wünschen.
Zu seiner Rechten nahm eine Frau in den Fünfzigern Platz, die in einen cremefarbenen Hosenanzug gekleidet war und dazu eine weiße Bluse mit vielen Perlen als Kette trug.
Sie hatte eine starke Brille auf, so ein wenig wie die Knef in den Achtzigern, etwas zu viel Maskara inklusive. Vor ihm gab es nur Durchschnitt, mehr die Ausstrahlung wie schick gemachte Landpommeranzen oder die totale Durchschnittlichkeit schlechthin... und zu seiner linken blieben zwei Plätze unbesetzt, dann folgte ein ziemlich dicker Mann im fortgeschrittenen Rentenalter, dessen grauer Anzug über dem Hosenbund dem Bersten nahe war. Der Platz direkt neben ihm blieb erwartungsgemäß leer, hatte er doch die zweite Karte erworben, bevor er sich entschlossen hatte alleine in dieses Konzert zu gehen und auf die Begleitung durch irgend einen Freund oder Bekannten zu verzichten. Er hatte dies schon häufiger getan, in dem Bestreben nicht alleine an einem erhebenden Kunstgenuss teilzunehmen, sondern die Möglichkeit zu haben sich darüber austauschen zu dürfen, was dann aber in den meisten Fällen ein Fiasko gewesen war, da die meisten Begleitungen in den Pausen unbedingt ein Getränk zu sich nehmen wollten und dabei durch die Pausenräume wandeln wollten, um sich die Beine zu vertreten oder andere, ihm völlig unverständliche Dinge, zu tun. Er blieb in den Pausen grundsätzlich sitzen und dachte unter allen Umstände nicht daran für andere seine Verhaltensprämissen zu ändern. Dies auch nicht, wenn er während des ersten Teiles entschieden hatte, dass es besser war in der Pause zu gehen, weil er sich mal wieder nicht konzentrieren konnte und ständig an den dringlich zu putzenden Bodens seines Studios denken musste oder Hayden mal wieder puren Hörfrust bei ihm auslöste, weil er nicht begriff wieso diese in Noten gefasste Langeweile erhebende Kunst sein sollte. Bestimmte Veranstaltungen machten ein verfrühtes Gehen, also mindestens ab der Pause, geradezu notwendig, gab es doch Veranstaltungen, die trotz oder gerade wegen eines regen Zuschauerzuspruches und einer durchaus professionell daher kommenden Vermarktungskampagne absolutes Platzkonzertniveau besaßen und diese im Vorhinein so gut zu kaschieren wussten, dass er dann nach erfolgtem Reinfall nur noch sehr schnell das Weite suchen konnte. Wer rechnet auch damit, dass in einer städtischen Philharmonie die Brandenburger Konzerte wirklich falsch und das heißt nicht nur schlecht gespielt werden oder dass die Filmuraufführung eines weltbekannten amerikanischen Künstlers ein desaströser Flopp wurde, bei dem er erstaunlicherweise der einzige war, der nach dem ersten Teil den Saal verließ und am Ausgang vom Personal noch entgeistert angesprochen wurde, weil er keine Pausenkarte entgegennehmen wollte, die den Besuchern einen kurzen Aufenthalt im Freien erlaubte, sondern bereitwillig und laut darüber Auskunft gab, dass er zu einer solchen Schundveranstaltung nicht mehr zurückkehren wolle. Solch Vorkommnisse waren aber erfreulicherweise sehr selten und galten für ihn als Betriebsunfälle, die wohl in einem solch großen Kulturbetrieb von Zeit zur Zeit auftreten dürfen ohne damit gleich alles in Verruf bringen zu können.
Er wollte sich nicht verantwortlich fühlen für andere, die anders dachten und fühlten als er selbst, war er doch davon überzeugt, dass seine Empfindungen auf einer Entwicklungsskala der kulturellen menschlichen Vervollkommnung sicherlich viel weiter oben standen, als die vieler anderer Zeitgenossen.
Beim Betrachten der Dame in Creme steckte er seine Hand in die Hosentasche und fand irritiert einen von ihm geschriebenen Zettel, den er zerknüllt eingesteckt zu haben schien.
Er strich das Papier glatt und las die von ihm verfasst Liste sehr giftiger einheimischer Pflanzen: Tollkirsche (Atropa belladonna L.); Roter Fingerhut (Digitalis purpurea L.); Gepfleckter Schierling (Conium maculatum L.); Herbstzeitlose (Colchicum autumnale L.), Blauer Eisenhut (Aconitum napellus L.); Schwarzes Bilsenkraut (Hyosyamus niger L.); Safrangelbe Rebendolde (Oenanthe crocata L.); Stechapfel (Datura Sramomium L.); Lorbeerseidelbast (Daphne laureola L.); Spanischer Ginster (Spartium junceum L.)
Er hatte all diese Pflanzen gefunden, ihre Eigenheiten auswendig gelernt und war nun vertraut mit ihren Fruchtständen, ihren Blüten und ihren verwertbaren Teilen geworden.
Er steckte den Zettel wieder ein. Die Dame in Creme hatte ihre dicke, sehr große Brille abgenommen und an einer Kette hängend auf ihrem Decolté abgelegt, so dass man ihre Halsfalten durch die aufrecht stehen Gläser deutlich vergrößert, wie zwei Fenster rechts und links auf ihrem Busen stehend, sehen konnte.
Ihre Wimpern waren, wie bei vielen Frauen über fünfzig, etwas von der Wimperntusche verklebt, weil sich die feinen Härchen nach den Wechseljahren manchmal in unterschiedliche neue Richtungen verbogen und dann nicht mehr so leicht zu färben waren. Es gab ihnen stets das etwas lädierte Aussehen, welches junge Frauen nach einem Weinkrampf hatten, nur dass man es in ihrer Altersklasse für gewöhnlich und nicht sonderbar hielt. Die Brillenkette hatte sich mit der mehrreihigen Perlenkette verwirbelt, so dass eine Reihe in Richtung zu rechten Schulter etwas in der Luft schwebte, da die Brillenkette aus transparenten Kunststoffgliedern zu sein schien und unter den Perlen nicht mehr zu sehen war.
Er erinnerte sich daran, gelesen zu haben, dass die Einwohner Polynesiens große Tahitiperlen zermalten, um das daraus gewonnene Perlmutpulver als Aphrodisiakum oder Heilmittel mit Honig einzunehmen. Heilsame Dinge sind kostbar, haben aber wenig mit unserem Glauben an Dauerhaftigkeit von Preziosen zu tun, ihr Wert kulminiert im richtigen Moment der Einnahme, der Augenblick, der Kontakt, die Berührung, wie Musik, sie entsteht einzigartig und unwiederrufbar, sie ist stets Moment der in eine Zukunft weist.
Die Musiker betraten den Bühnenraum und das geschmacklos gekleidete Saalpersonal schloss die Türen. Zuspätkommende würden einzig noch den dafür vorgesehenen Balkon betreten dürfen und auch nur an Stellen der gespielten Musik, die ein Öffnen der Türen vertretbar machten. Eine Regelung die sehr im Einklang mit seiner Auffassung von der Würde des Augenblickes übereinstimmte. Wer zu spät war, den bestrafte nicht das Leben, sondern der Augenblick. Die Musiker nahmen ihre Plätze ein. Das etwas unbestimmt anmutende Rücken der Stühle, das Zerren und Ruckeln an den Instrumenten wurde bald vom Aufstehen des ersten Violonisten beendet, der den Ton zum Einstimmen vorgab.
In dieser Besetzung und bei diesen Instrumenten nicht von ganz so manifester Bedeutung, wie bei den von ihm so heiß geliebten Barock oder gar Renaissance Ensembles, die mit Originalinstrumenten nach jedem Stück neu Einstimmen mussten, da die Instrumente aus material- und bautechnischen Gründen sich nach kurzer Zeit erneut gedehnt oder verkürzt hatten.
Das Orchester beruhigte sich innerhalb einer Minute wieder und der Dirigent betrat die Bühne, Applaus kam auf, er verbeugte sich, dankbar und kehrte dem Publikum den Rücken zu. Er betrat eine Art kleine Empore, mit einer Absprerrstange im Bereich des Rückens, verchromt, passend zur Inneneinrichtung des Gesamtinterieurs. Der Boden der Empore war mit rotem Teppichboden beschlagen. Er hob die Arme und begann mit bloßen Händen, ohne Taktstock zu dirigieren. Die Musik setzte leicht zeitversetzt ein und überschwemmte den Konzertsaal sofort mit ihrer immensen Kraft, wie ein Strom, der den Rauminhalt an jeder Stelle gleichzeitig elektrisierte. So etwas hatte er schon einmal visualisiert in einer Art Science Fiction Film gesehen, in dem in der Luft sich sanft, aber sehr schnell bewegende funkenartige Gebilde fast überall gleichzeitig wie Vogelschwärme herumflogen. Sie bildeten wie diese buketartige Gebilde, die in immer neue Richtungen schnellten und deren Knospen erneut zu Blüten aufbrachen.
Er kannte jeden Ton, der nun gespielt wurde auswendig. Er verkrampfte sich ein wenig, in der bangen Erwartung, etwas könnte sich anders anhören, als er es für angemessen hielte. Nach wenigen Minuten war der Bann aber gebrochen, er wusste nun, dass dieses Orchster, eine Interpretation spielte, die er interessant und überrraschend finden würde, selten hatte sich herausgestellt, dass der erste Eindruck dann doch noch in eine Enttäuschung führen konnte.
Kunstakademie Quickguide 1
Bildende Künstler treten in der deutschen Mediengesellschaft allenfalls in Fachpublikationen auf und auch dort geben sie so gut wie gar nichts von ihrer Lebensrealität preis, wird die Künstlerpersönlichkeit doch zu Recht oder Unrecht stets zugunsten des Werkes vernachlässigt, da diese anscheinend einzig das darstellt, was eine interessierte Öffentlichkeit rezipieren möchte. Ausnahmen sind Berühmtheiten, deren Namen jeder kennt und die sich als Pop Ikonen in das Bewusstsein großer Teile der Bevölkerung eingegraben haben, nachdem auch die Boulevardpresse und das Fernsehen sich ihrer angenommen haben, dabei ist es dann aber gemeinhin unerheblich ob es nun gerade Künstler, Angehörige des europäischen Hochadels oder singende Versager sind. Pop gleich populär eben. Bei derzeit lebenden „bekannten“ Künstlern ist es allerdings auch fraglich, wer sie bei einer unrepräsentativen Befragung in der Fußgängerzone dem Namen nach kennen würde. Wer kennt die teuersten lebenden Maler, allesamt Deutsche...?
Nun, zugegebenermaßen denken Menschen bei Fußgängerzonenbefragungen auch, dass Popcorn auf Bäumen wächst und dass Nudeln im Frühjahr auf dem Feld ausgesäht werden...
Im Verhälnis zur Gesamtbevölkerung ist die Zahl der studierten Künstler wahrscheinlich sehr gering und auch die Anzahl der derzeit aktiv dort Studierenden, im Verhältnis zur Gesamtzahl der bundesdeutschen Studentenzahlen, eine Marginalie.
Wie wird man denn Kunststudent?
Man überlegt sich klassischerweise nach Erreichung der allgemeinen Hochschulreife, eine Mappe zusammenzustellen, in der man sein bisheriges künstlerisches Schaffen, schließlich hat man schon als Dreijähriger vielversprechende und von den Anverwandten mit Staunen kommentierte Werke vorzuweisen, dokumentiert. Oder aber man erstellt eine Mappe gänzlich neu, nur um des Zwecks der Bewerbung um einen der raren Kunststudienplätze. Theoretisch ist es auch möglich ohne Abitur an einer Kunstakademie angenommen zu werden, dort gelten die gleichen Regeln wie an den Konservatorien oder Musikhochschulen, wenn man über eine außerordentliche künstlerische Hochbegabung verfügt, geht es schon ab dem sechzehnten Lebensjahr und dann ist die Vorbildung unerheblich, das sind allerdings große Ausnahmen. Wer ist schon hochbegabt?
Besagte Mappe hat je nach Hochschule eine bestimmte maximale Größe und einen maximalen Umfang, die Angaben entnimmt man den Bewerbungsbedingungen.
Welche Mappen genug künstlerische Begabung dokumentieren, ohne eine künstlerische Weiterentwicklung auszuschließen, ist eine Wissenschaft an der viele Menschen Geld und ein fragwürdiges Prestige verdienen, in dem sie willigen Jungkünstlern bei der Erstellung einer Mappe und deren Inhalts gegen Geld behilflich sind. Dies geschieht in sogenannten Mappenvorbereitungskursen, die in den Städten, welche über eine Akademie verfügen, gerne und häufiger angeboten werden. Man versucht den Interessierten dort zu erklären, wie sie das Unmögliche bewerkstelligen können, für einen der sehr raren Studienplätze ausgewählt zu werden.
An der Kunstakademie Düsseldorf, ihres Zeichens die deutsche Kunstakademie mit den berühmtesten Professorenkünstlern und dem berühmtesten Langzeitdirektor Markus Lüppertz, rechnet man in guten Jahren angeblich mit bis zu eintausend Mappenbewerbungen auf circa 60 bis 80 Studienplätze. Es sollen zwischen 5 und 10% der Bewerber nach Qualität der Mappensichtung angenommen werden. Da diese Mappen von einer Kommission, die aus den Professoren der Akademie zu bilden ist, alle angeschaut und beurteilt werden müssen, ergibt sich ein recht interessanter Zeitschlüssel. Nähme man an, dass die berühmten Kunstprofessoren sich eine Woche für die Mappenbetrachtung Zeit ließen und diese Woche fünfunddreißig Stunden reine Mappenbetrachtungszeit bedeuten würde, so würde nicht besonders viel Zeit für die Sichtung bleiben. Mappendaumenkino?
Jedenfalls eine Motivation, etwas einzureichen, was Aufmerksamkeit erregen könnte und dabei auf Menschen zu vertrauen, die glauben sie wüssten, was man dazu benötigt.
An der Düsseldorfer Akademie hat angeblich darüber hinaus jeder Professor die Möglichkeit mithilfe einer sogenannten Vorempfehlung einen Bewerber zu fördern und ihm damit die Aufnahme erheblich zu erleichtern, weil er bereits im Vorfeld mit ihm Kontakt hatte und sich seine künstlerischen Werkstücke anschauen konnte. Berücksichtigt man die dadurch entstandene Verringerung um wirklich frei erringbare Studienplätze, so nehmen die Chancen angenommen zu werden ziemlich ab, aber es schaffen schließlich einige die ersehnte Aufnahme. Was passiert, wenn man angenommen wird?
In Düsseldorf kommt man in die sogenannte Erprobungsstufe, in der man von Lehrbeauftragten (diese sind keine Professoren und im Zweifelsfalle auch nicht berühmt und verdienen dementsprechend viel weniger) innerhalb eines Jahres in allen möglichen künstlerischen Techniken unterrichtet wird und man genug Zeit hat soziale Kontakte unter seinesgleichen zu finden und sich zu überlegen, bei welchem Professor man denn dann später als Eleve in eine Künstlerklasse aufgenommen werden möchte.
Das heisst: möglichst schnell stilistsche Entscheidungen treffen, Kunstprofessoren nehmen in den allermeisten Fällen nur jemanden, der mindestens entfernt so arbeitet wie sie selber.
Wird man nämlich in einer Abschlussbegutachtung nicht erwählt oder hat seine Erwählung bereits zuvor mit jemandem klar gemacht, dann muss man gehen und das ganze Jahr war formal gesehen umsonst und die Mappenauswahl hat rein gar nichts gebracht, außer der Erkenntnis: Nichts gewesen außer Spesen.
Hat man es in eine der Künstlerklassen gebracht, heißt es in der sozialen Hackordnung unterkommen und von Jahr zu Jahr aufzusteigen oder im ungünstigsten Falle einfach rausgeschmissen zu werden. Das heißt dann „keine Unterschrift bekommen“ und sich damit nicht mehr für das folgende Semester rückmelden zu können. Man ist also einzig und alleine von dieser einen Unterschrift des künstlerischen Professors abhängig und zwar auf Gedeih und Verderben. Bekommt man sie nicht, hat man eine Semester Zeit sich einen neuen Professor mit einer neuen Klasse zu suchen, gelingt dies nicht, kann man ohne Abschluss und irgend etwas die Akademie verlassen. Bei besonders anwesenheitsscheuen Künstlerprofessoren und Studenten ist die Notwendigkeit Unterschriften zu verteilen und zu erhalten ein häufiger Grund um mal in Düsseldorf zu erscheinen...
Versteht man sich gut mit seinem Professor oder adaptiert seinen Stil in ungeheuerlich epigonaler Weise, dann hat man nach circa acht bis zehn Semestern die Möglichkeit von diesem zu seinem Meisterschüler ernannt zu werden, ein Dokument darüber wird einem in Düsseldorf in einer feierlichen Zeremonie verliehen, es ist ein Büttenpapier versehen mit Prägesiegeln, die an Kindergartenkartoffeldruck erinnern, von Herrn Lüppertz, wir erinnern uns, dem Direktor, designed und mit dem eventuellen Gegenwert eines Masters of Arts.
Dann hat man noch die Möglichkeit einen Akademiebrief zu machen, das ist eine etwas weniger persönliche Angelegenheit, man muss eine bestimmte Zeit bei einem Professor in der Klasse eingeschrieben sein und darf sich, nachdem man eine ganze Reihe von theoretischen Seminaren mit Erfolg und somit Scheinerwerb abgeschlossen hat, für eine Abschlussprüfung anmelden, im Gegensatz zum Meisterschüler beendet der Akademiebrief nämlich das Studium endgültig.
Danach muss man gehen und hat etwas im Gegenwert eines Diploms.
Jahre später konnte ich einmal bei der Agentur für Arbeit erfahren, wie bekannt die ersten beiden rein künstlerischen Abschlüsse sind, als man mir mitteilte, dass ich gar kein Hochschulabsolvent sein könne, da meine Abschlüsse nicht in der vorliegende Exel Liste zu finden seien. Aus diesem Grund müsse ich wohl zwangsläufig ohne anerkannten Abschluss und Ausbildung sein. Ich sei deshalb als Abiturient ohne abgeschlossen Ausbildung zu behandeln. Soll die Akademie nicht die Urmutter aller universitärer Systeme sein?
Beim Akademiebrief nimmt eine Kommission bestehend aus Theorieprofessoren (bei den Theorieprofessoren werden in Düsseldorf die erweiterten Bereiche der Sparten Kunstgeschichte, Philosophie, Pädagogik, Soziologie, Ästhetik und Psychologie abgedeckt) und Kunstprofessoren, inklusive des eigenen Professors, die Präsentation einer künstlerischen Abschlussarbeit ab. Einzig die Frage, ob das Zertifikat gewöhnlich oder mit Auszeichnung verliehen wird ist, hängt noch von der Stimmung der Kommission ab, denn es geht hier ja nicht um „etwas verstehen“ oder „etwas lösen“ oder „etwas richtig machen“, sondern einzig und alleine um etwas zu machen, was Kunst sein will und als solches erkennbar ist und von den Gremiummitgliedern persönlich und formal unterstützt werden kann.
Außerdem kann man an einer stattlichen Kunsthochschule oder Akademie Kunst als Lehramtsfach Sekundarstufe zwei studieren, man macht dann noch eine weiteres Fach an einer anderen Universität und wird irgendwann Kunstlehrer, aber nicht ohne das auch in allen anderen Bereichen notwendige zweijährige Referendariat bis zur Staatsexamen zwei Prüfung abzuleisten. Studenten mit diesem Studienziel werden erfahrungsgemäß nicht besonders ernst genommen, wer will schon Lehrer werden, wenn er in die Kunstgeschichte eingehen kann und ihm Unsterblichkeit auf dem Olymp der Genialen winkt?
Was einem während und nach des Studiums noch fehlt sind die Stipendien, welche besonders erwählten Studenten verliehen werden können. Dafür muss man sich entweder für eines bewerben oder aber sich für eines vorschlagen lassen oder sich um das Vorgeschlagen-Werden bewerben.
Es bekommen die Studenten Stipendien, welche von ihren Professoren besonders gerne gemocht werden oder die, welche wirklich Glück haben und wenn man schon so viel Glück hat, wie ein Kunststudent...
Stipendien beinhalten unterschiedliche Dinge, sie können mit einem komplett finanzierten Auslandsaufenthalt daherkommen, inklusive Unterkunft, Arbeitsräumen, monatlicher Apanage, Summen für Arbeitsmaterialien und einer Abschlussausstellung oder einfach einmalige Geldsummen in unterschiedlicher Höhe bedeuten oder nur Ausstellungsbeteiligungen bewirken oder zweckgebunden einen Katalog oder eine künstlerische Arbeit finanzieren oder sie tragen einfach eine gewisse Zeit zum Lebensunterhalt bei.
Stipendien können (müssen aber nicht) das Salz in der Kunstkarrieresuppe sein, hat man eines, kann ein weiteres bekommen und so weiter, deshalb gibt es durchaus Kunsthochschulabsolventen, die bis zu ihrem vierzigsten Lebensjahr keine müde Mark verdienen mussten, es kam immer über sie und insgesamt gib es einige Stipendien zu vergeben, da ist man schon eher eine Ausnahme, wenn man während seines Studiums keines erhalten hat, der Neid sei mein stetiger Begleiter...
Es gibt sehr unterschiedliche Angaben, wie viele Kunsthochschulabsolventen es nun in der Kunst bewerkstelligen, bzw. auch später etwas mit der Kunst im professionellen Sinne zu tun haben.
Es dürften sehr wenige sein, die in wirtschaftlicher Hinsicht ein Auskommen aus dem genossenen Studium ziehen. Man rechnet mit Zahlen im Promillebereich. Genaue Erhebungen gibt es dazu leider nicht.
Es sind aber in jedem Falle sehr sehr wenige von sehr wenigen.
Das dafür in Anspruch genommene Studium dürfte, was die Unkosten pro Student anbelangt, eines der eher kostspieligen sein. Das liegt an der Menge von Studenten pro Professor. In den Künstlerklassen befinden sich im Durchschnitt zwischen acht und dreißig Studenten je Professor und an einer Akademie wie der besagten in Düsseldorf insgesamt dürften wohl kaum mehr als achthundert gleichzeitig eingeschrieben sein. Es gibt noch anderes Personal, was man an einer Kunstakademie so benötigt, Werkstätten inklusive Werkstattleitern in den Fachbereichen Kunststoff, Metall, Holz, Stein, Keramik, Fotografie und Video, einem ganzen Stab von wissenschaftlichen Mitarbeitern, teils ebenfalls mit Professorentitel, einer Bibliothek und Archiven mit dementsprechendem Personal, Hausverwaltung, Sekretariat etc.
Tja und die meisten Materialien, aus denen dann die Kunst entsteht, müssen die Studenten aus eigener Tasche bezahlen, das heißt echten Masochismus leben.
Wie schön, dass es sich unser Staat leisten kann, eine kleine, aber feine Menge unglaublich kreativer Menschen auszubilden, die im realen Arbeitsmarkt objektiv keine Verwendung für ihr Studium finden können...
Vermarktungsaspekte oder grundsätzliche Fragen nach dem „wie überlebt man mit oder trotz Kunst“ kamen während meines Studiums nirgends vor. Es gab fast ausschließlich den elfenbeinernen Turm. Lediglich die Frage „wann und wie man berühmt und reich werden würde“ war Grund für Spekulationen, dabei wäre ein Einführungsseminar mit dem Thema „wieso und wann sie als Kunsthochschulabsolvent zum Sozialfall werden könnten“ ein gute Grundlage zum weiteren Planen, schon vor dem Meisterschülerdasein...
Aber man kann nicht sagen, es hätte einen niemand gewarnt, denn die unkonstruktive Information „davon können sie im Zweifelsfall nicht leben“ begleitete einen beständig, mit Mitte Zwanzig scheint das aber eine eher marginale Bedeutung zu haben.
-to be continued-
Donnerstag, 4. Januar 2007
Merkels Reha
Sei es das Ratequiz, bei dem man ein undefinierbares Geräusch raten könnte, was zuvor schon mindestens tausend andere Idioten nicht geschafft haben und deshalb eine unerhört erfreuliche Summe im sogenannten Jackpot auf Erlösung wartet und man schnell gemerkt hat, auch mit Abitur und abgebrochenem Hochschulstudium wird man nie darauf kommen, was da so gequietscht haben könnte. Sei es das unwillige Erstaunen am frühen Morgen, dass im Klassikkanal um 7 Uhr und fünzehn Minuten Zwölftonkompositionen für Orgel und Bratsche von 1955 erschallen, während im Popsegment American Hardcore Geschrammel aus den 90ern läuft, was eher an den Klang des Einsatzes einer Abrissbirne in der Fussgängerzone erinnert und auf der Schlagerwelle billige Fernsehfilm Marschmusik erklingt, zu der Marika Röck gerne Paprika geschnitten hätte. Wer bleibt bei so etwas am Radio? Trotzdem nichts gegen das nicht visuelle Medium, es erleichtert, weil es der Imagination Spielraum gibt und insofern wesentliche Grausamkeiten des deutschen Fernsehprogrammes unsichtbar lässt und man sich einbilden kann was einem so gerade einfällt. Bei manchen Persönlichkeiten des Zeitgeschehens kann die Imagnation allerdings die Wirklichkeit noch um Längen an Grausamkeit und Entsetzen überragen. So geschehen, bei der Neujahrsansprache, ja, nein, nicht des Bundespräsdenten, doch, die der Bundeskanzlerin, welche an Sylvester ausgestrahlt wurde und in sofern eine verfrühte Neujahrsansprache darstellte, die eigentlich eine Sylvesteransprache gewesen sein dürfte. Die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, BRD, dies wird heute im allgemeine mit Deutschland übersetzt, so wie USA zu Amerika werden und das Vereinigte Königreich der Niederlande zu Holland... Angela Merkel, ertönt mit leicht freudiger Intonation in seltsam langsamen Sprachduktus, der befürchten lässt, dass sie Opfer eines Schlaganfalles im Bundetag wurde und nun nach mehr oder weniger erfolgreicher Reha immer noch vorsichtig und sehr langsam, aber was für ein Glück, fehlerfrei wieder sprechen gelernt hat.
Angela M. also erzählt mir und den andern zugeschalteten Bundesbürgern, dass Alles alles in allem ganz anders ist, als die Allgemeinheit es sieht und im Besonderen, dass das, was man als gesellschaftliche und persönliche Lebensverschlechterung der letzten Monate erfahren musste eigentlich ausserordentliche Lebensverbesserungen sind, die sie als Bundekanzlerin in kürzester Zeit und vehementer Nachdrücklichkeit und mit politischer Verve auf den Wege gebracht hat. Die Verbesserung der Arbeitsmarktlage beglücke uns genauso, wie das Überangebot an Lehrstellen in vorzeigbaren Traumberufen, der phantastische Aufwärtstrend der deutschen Wirtschaft erhelle unsere Gemüter, immer mehr Firmen gingen weniger schnell pleite und die erquicklichen Unternehmensgewinne verzauberten unser Sozialwesen in dem die Eigenverantwortung gerade für Familien mit Kindern gefördert würde, der Staat könne ja auch nicht überall sein und die für den einzelnen gestiegenen steuerlichen Belastungen machten den Wirtschaftsstandort Deutschland durch die steuerlichen Entlastungen für Wirtschaftsunternehmen wieder attraktiver, Arbeitsplätze würden deshalb wieder im Inland geschaffen, wo die Konditionen denen im Ausland mindestens durch hilfreiche Leiharbeitsagenturen angeglichen wurden und wo die EU doch nun grösser geworden ist, stünde einer allgemeinen Nivellierung nach unten nichts im Wege. Der Osten ist gross. Der Fussball hat es Angela M. angetan und sie wünscht sich, dass wir alle das gute rotschwarzgold Gefühl, welches sie während der WM in Deutschland verspüren konnte, bewahren mögen, um mit Engagement unsere Kindern in eine kindergarten- und pisafreie Zukunft zu geleiten, in der Integration ausländischer Mitbürger keine blossen Lippenbekenntnisse von Menschen bleiben, die in schönen Villenvororten leben und ihre Kinder nachmittags rein profilaktisch mit dem Jeep zum Flötenunterricht bringen, nein, sie wünsche sich Bürger, die auch mal das Handy ausschalten könnten um sich zu besinnen und darüber nachzudenken, wie sie bei der nun bald ansteigenden Mehrwertsteuer noch telefonieren und gleichzeitig Esse einkaufen könnten. Ein Handy aus deutschen Produktionsstandorten dürfte eher unwahrscheinlicherweise dabei sein, die schönen, aber technisch ziemlich unterbelichteten Geräte einer in München ihren Hauptsitz habenden Firma, wird nun erst recht niemand mehr kaufen, die Sparte ist seit Sylvester insolvent. Bin ich nach dieser langsamen Ansprache, welche ein wenig an den telefonischen Bestell-Service der deutschen Bahn erinnerte, „nein, nein, ich meinte nicht ja!“, nicht mehr so ganz von der Unversehrtheit meiner Ich-Existenz überzeugt, womöglich bin ich ja doch eine Drohne im allgemeinen Wir-Wollen-Kaufen-Kollektiv-Deutschland ?
Dann werde ich wohl bald Pollen sammeln gehen müssen um sie Angela M. vor die Füsse zu kotzen, das ist echter Glaube an den Fortschritt der Regierungparteien, Wachswaben, die schmelzen und eierlegende Königinnen, die etwas reproduzieren, was man politsche Frechheit gepaart mit Blindheit für die Realität nennen muss. Nur was kann man von einer Politikerkaste erwarten, die mit üppigem Einkommen ausgestattet in wohlbehüteten Verhältnissen kultiviert vor sich hin lebt, zwischen Büro, Sitzungssaal, Einsternerestaurant und einem komfortabel umgebauten Sommerfrischedomizil in immer neuen Wagen der mindestens gehobenen Mittelklasse hin und her pendelt und wenn überhaupt nur durch Lobbyisten verschiedener Wirtschaftszweige belästigt wird, die z.B. das Verschieben der in fast ganz Europa verbreiteten Rauchverbote im öffentlichen Raum für Deutschland mithilfe ihrer Engelsgeduld durchzusetzen wissen oder aber die Position der Pharmaindustrie, egal welche Form die sogenannte Gesundheitsreform annehmen sollte, immer besser als zuvor und als alle anderen Betroffenen dastehen lässt. Da wird die Reinstallierung der gründlich durchgefallenen Europäischen Verfassung wohl ein nettes Ziel für Angela M., nette Essen und nette Reisen zu und mit ausländischen Kollegen, die genauso wie sie eines nicht wollen: wirklich etwas bewegen, nein sie wollen lieber alles so ähnlich lassen wie bisher, schliesslich muss man seine ganze Kraft für den nächsten Wahlkampf aufsparen, das wichtigste im Leben eines Politikers, die Versicherung seinen Job im allgemeinen, inklusive einer Menge von Vergünstigungen, Privilegien und Prämien fortsetzen zu können und das so lange wie möglich, um dann, sollte man doch irgendwann gehen müssen, weil der Bundesbürger einfach nicht verstanden hat, was man so alles an sinnvollen Dingen vollbracht hat, in einen netten und ebenfalls hochdotierten Job in der sogenannten freien Wirtschaft umzusatteln, ein schönes Dankeschön der Lobbyisten, die eine gute Zusammenarbeit auch später im eigenen Unternehmen gerne durch intelligente Opportunisten absichern wollen. Prost Neujahr Frau Merkel! Sie werden sicherlich nicht an ihrem Kontostand bemerken, dass die Mehrwertsteuer angehoben wurde, auch wenn sie zugegebenermassen viel weniger verdienen, als ihre Kollegen in der Industrie. Aber ab einem bestimmten monatlichen Einkommen ist es doch eh egal, was die Dinge kosten, jedenfalls wenn man in Discounterkategorien denkt. Da geht es dann nur noch um die Rangskala der Reichen, wieviel Golfclub kann ich mir leisten und werden meine Nachbarn noch exklusivere Immobilien erwerben als ich? Angela Merkel sollte jedenfalls an ihrer Sprachreha arbeiten, bei der Langsamkeit der Formulierungen kann man nun wirklich alles verstehen, auch wenn man etwas schwer von Verständnis sein sollte, damit soll dann wohl die maximale Spannweite an potentiellen Wählern abgedeckt werden, aber die Nähe zu Sprachcomputern offenbart die Möglichkeit, sie garnicht mehr selbst sprechen lassen zu müssen, vielleicht war sie es ja schon garnicht mehr selber und da sind wir überraschenderweise beim „Michael Jackson“- Phänomen angelangt, wo wir es nie vermutet hätten, weiss man doch schon lange nicht mehr, ob der King of Pop noch er selber ist oder zwischen zwei Operationen gegen einen neuen ausgetauscht worden ist. Spricht Frau Merkel noch selber? Oder wird sie von etwas anderem gesprochen? Ein Fall für investigativen Journalismus. Könnte man meinen...