Dienstag, 23. Januar 2007
Jetzt ( Teil 1 )
Von einer Ägyptenreise mit einer Freundin brachte sie ihm eine transparente Pyramide mit, in der einst ein goldener Kunststoffkugelschreiber Platz gefunden hat, den sie aber während der Reise bereits verlor, nach ihrer Aussage schrieb er aber eh unzureichend und nachdem sie ja nur zu gut wußte, dass er sich bemühte stets nur mit Bleistifft zu schreiben, schien ihr dieser Makel wenig ins Gewicht zu fallen.
Diese Pyramide war ungefähr so gross wie eine Feldmaus und bestach durch eine absonderlich pitoreske Füllung. Im Inneren stand ein goldfarbener Nofretete Kopf, um den, bei intensivem Schütteln, eine Art Goldregen aus glitzernden Elementen schwirrte. Die Teilchen senkten sich dann schnell wieder zum Fuß der Nofretete. Beim Schütteln entstand eine Schaumwoge, die im oberen Drittel eine Art Wolkendecke bildete und sich nur sehr langsam zurückbildete. Nefer Nefer Titis, die Schönste der Schönen, der Schönen.
Die Norfretete war stets etwas unscharf im Auge des Betrachters, das dicke Plexiglas der Pyramidenhülle brach die Schärfe der Durchsichtigkeit an mehreren Stellen.
Es war eines der aktuelleren Mitbringsel und er hatte sie auf dem Heizkörper in seiner Küche aufgestellt, wo die Wärme den Goldregen tatsächlich ohne mechanische Kraft zum Tanzen brachte, das warme Wasser wälzte ihn um.
Sie sah die Pyramide dort stehen und lachte ein bischen über die Lächerlichkeit des Souvenirs und erzählte angeregt über den Aufenthalt im Hilton Hotel in Kairo, in dessen Räumlichkeiten sie sich wegen der großen Hitze und den aufdringlichen einheimischen Männern dort hauptsächlich aufhielt. Bei einem Ausflug nach Gizeh, der sie sehr beeindruckt hatte, erstand sie die Nofretete bei einem Straßenhändler dicht am Taxistand. Der Verkäufer hatte ein gutes Dutzend transparenter Pyramiden unterschiedlicher Größe auf einem silbrig schimmernden Karnevalsstoff ausgebreitet. Als sie sich zu den Waren auf den Boden herabneigte, unterbrach der Verkäufer sein geschwätziges Gerede. Ihr seidenes Kopftuch hatte sich gelöst und war über die Pyramiden geglitten, so daß sie die spitzen Ausstülpungen eines großen surrealen Pferdekopfes bildeten, der auf dem Tuch abgebildet war. Die Sonne brach sich in den Erhebungen des schimmernden Stoffes und ihr sonst bedecktes, helles Decolté leuchtete. Der Verkäufer sah sie stumm an, sie hob das Tuch errötend wieder auf, schlang es sich gekonnt um den Kopf und kaufte verlegen die Nofretenkopfpyramide mit Goldlammé in Wasser schwebend. Ohne über den Kaufpreis zu handeln.
2.
„Es gibt diese Tage unendlicher Sinnlosigkeit, in der Ausschnitte und Fragmente der Erinnerung an das, was ich fuer die jüngere oder ältere Vergangenheit halte, zu einem Bild der totalen Stagnation werden.
Was mache ich hier in diesem Scheißleben, in dem man immer nur Rücksichten nehmen muß und ansonsten meist nur Angst um wenig zu fühlen ist, ich lasse es zu, dass nichts Schönes mich betören kann, sondern dass ich mir konstant gedanken über die Einhaltung von Regeln mache, die, wenn ich es auch nur ansatzweise überlege, Regelwerke der völligen Spießigkeit sind. Ich falle einer Form von Zwanghaftigkeit anheim, die sich kein Idiot hätte ausdenken können. Diese Idee etwas tun zu müssen, damit man eine Existenzberechtigung hat ist lächerlich, ich bin und das ist mein Problem. Was soll ich hier in dieser Welt? Spaß haben, Verantwortung für die Ängste anderer übernehmen? Mich gesund verhalten, gepflegt aussehen und in sauberen Räumen wohnen. Mehr ist schon fast nicht nötig, um die Zeit rumzukriegen, dann noch ein paar Freunde, die sich über irgend welche Lapalien unterhalten wollen, ein wenig Leiden und zum Arzt gehen. Eine Liebe leben, die sich von selbst lebt und in erster linie von Versuchen der Abgrenzung getrieben wird. Welche Perspektive nach vielen gescheiterten Lieben hat man denn? Das Prinzip „Hoffnung“ ist irgendie erbärmlich, nichts zeugt davon, daß es Grund dazu gäbe. Diese Gesellschaft ist verroht, korrupt und mittelmässig, all jene, die unsere Kultur zu einem Höheren bringen könnten sind von einer clique sozialer Ellenbogenvirtuosen kalt gestellt worden. Die guten und talentierten gewinnen fast nie.
Das ist meine Wahrheit und sie verdüstert sich von Jahr zu Jahr. Ich will weg von Menschen und ihren Ritualen. Das ist der Wunsch nach dem Ende.“
3.
„Ich fahre diese endlos durch die Landschaft schnurrende Lärmschutzmauer der ICE Strecke nach Frankfurt entlang, die Ernüchterung der Landschaft hat etwas Brutales, die Betonelemente sind vollgesprüht mit sinnentleerten Signaturen total gestörter Vollidioten, die meinen durch das Anbringen ihrer Namenskürzel sich und der Umgebung eine bereicherte Identität zu verleihen. Wer hat diese krankhafte Verhaltensweise in die Welt gebracht. Überall dicke, für den Betrachter sinnfreie Buchstaben mit Sprayflaschen an erreichbare Flächen anzubringen? Wer will in diesen Feldern der Endzeit, mit wilden Müllkippen an jedem landwirtschaftlichen Schotterweg und entsetzlich häßlichen Einfamilienhausneubausiedlungen mit bereits in der Planungsphase angeschütteten Lärmschutzwällen noch mehr von „Ich will ein Mensch sein, der Spuren hinterläßt“ sehen müssen? Die Strommasten, die Landschaftspest des zwanzigsten Jahrhunderts durchkreuzen grob den Himmel, am Horizont der aufsteigende Dunst der am Fluß gelegenen petrochemischen Anlage, davor ein Golfplatz und wenige Restfelder, auf denen die dunkelgrüne Wintersaat wächst, auch wenn man jetzt eher findet, dass hier nichts mehr wachsen sollte, was nicht als Bergkrüppelzwergimmergrünkonifere einen Garten langweilen darf. Kiesgruben hier und da, von Zäunen umgeben, mit Schildern von Angelvereinen und anderen Zwangsveranstaltungen bürgerlicher Barbarei geziert: Betreten verboten! Schwimmen verboten! Frei sein verboten! Genießen verboten! Wegbleiben!
Man sollte unentwegt fahren, laufen und rennen, niemals verweilen, keine Brombeersträucher mit zerbrochenen Gartenstühlen anschauen, sondern nach vorne, immer nach vorne und wenn es nicht weitergeht, Tod, Tod, sich auflösen.
Ich sehe den ICE nie, ich fahre nur zu meiner Physiotherapie in diese Klinik, die aussieht wie ein weiß verputztes Mietshaus, mit dem überfüllten Wartezimmer und dem abgestandenen Geruch. Durch diesen riesigen dunkeln Steinflur, in dieses Behandlungszimmer, was aussieht wie ein ruiniertes Büro, mit diesen fürchterlichen modernen, abscheulich geschmacklosen Büromöbeln, den schlecht gegossenen Standardbürohydrokulturpflanzen, die genausogut aus Plastik sein könnten und dann noch viel frischer aussähen, dem ausgetrockneten Tischspringbrunnen, der eine Allegorie des Wahnsinns sein muss mit seinen eingetrockeneten Kalkrändern, den Bildern an den Wänden, die von mickriegen Seminaren und abgehalfterten Kursen erzählen, auf diese Liege, die bei der Massage meines schmerzenden Beines wimmert wie ein getretener Hund und dem Therapeuten, der sich angeregt mit mir über Gott und diese grauenhafte Welt unterhält.
Erzengelenergie, das wird glücklich machen, mein eigenes Raumschiff von einem Markenhersteller geliefert.“
Ich gehe mehr für „drei Nüsse für Aschenbrödel“, eine belämmerte Eule fliegt um meinen Kopf und scheißt mir auf die Schulter, aus dem Stoff sprießt ein Haselnusskeim, der sofort drei große saftig aussehende Nüsse trägt. Wenn ich die auf die Erde werfe, werden wegweisende Wüsche wahr. Ich werfe die erste Nuss: ganz Mitteleuropa ist wieder dicht bewaldet, auf allen freien Flächen wachsen Bäume, alle Häuser und Fassaden sind mit Kletterpflanzen bedeckt, die ICE Strecke führt durch einen dichten Eichenwald, die Klinik steht in einem feuchten Erlenbruch und an der Bushaltestelle quaken extraterrestische Laubfrösche…, grün, RGB-grün, die herrschende Farbe…
Die zweite Nuss werde ich mit einem Nusskancker aus DDR Zeiten versuchen zu öffnen, zuerst wird der Bart aus weissem Nylongewebe, schlecht angeklebt, abfallen, dann beim ixten Versuch wird der Mechanismus völlig versagen und die Kieferachse wird aus der Verankerung der blau eingefärbeten Holzschulter brechen, die runde Fußscheibe wird sich lösen und die Beine werden sich quietschend spreitzen, so dass der Torso zu Boden fällt, die unversehrte Nuss wird meinen Fuß kennenlernen und siehe da, mein zweiter weiterführender Wunsch geht in Erfüllung, ein wohlgefüllter Kleiderschrank mit gutgeschnittener Herrenmode aus erstklassigen Stoffen, von dem kein Teil mehr richtig passt, mein schmerzendes Knie und die daraus erwachsende Bewegungslosigkeit hat mich zu einem fetten Schwein werden lassen.
Klar, dass ich auf der Liege eingeschlafen war, nun aber wimmernd erwache, weil der Therapeut zu feste zugegriffen hatte.
Was bleibt ist der Wunsch nach einer dritten Nuss und einer von einem guten Präparator fixierten Eule, die ich zuvor auf einer Schnellstraße einsammeln konnte und einige Monate in der heimischen Tiefkühltruhe zwischengelagert hatte…
Kennst du das Land wo die Zitronen blühen? Ja, und zwar in dem noblen Blumenshop der Innenstadteinkaufspassagen. Zehn bis zwanzig Uhr.
4.
Das Publikum strömte durch das Foyer, vor dem Eingang entleeren sich die Konzertbusse aus der Provinz. Concertgebouw Orchester Amsterdam unter „wem auch immer“, „der Klang der großen weiten Welt“, die wahre Provinz trifft auf die eigentliche.
Er verharrte einige zeit vor dem CD Verkaufsstand, der regelmässig zu den Konzerten von einem langweilig aussehenden Studenten betreut wurde. Schon bei der Kartenkontrolle überkam ihn diese Mischung aus Angst und Ekel vor der abartigen Durchschnittlichkeit dieser Leute, diese unbegreifbaren Langeweiler, deren wirkliches Interesse nicht in der Musik liegen konnten, sondern in der profanen Einbildung etwas zu erleben, was die Sinnlosigkeit ihrer Existenz scheinbar oder tatsächlich erträglicher zu machen schien. Er kannte die durchschnittlich fünfzig verschiedenen ausgestellten Tonträger allemal, sei es, dass er sie schon mehrfach verächtlich wieder in die Auslage zurück gelegt hatte, nachdem ihm die Einzelheiten der Einspielungen völlig missfielen, sei es, dass er sie unterdessen hier oder in einem Fachgeschäft selber gezielt erworben hatte und schon am Cover, ohne sie berühren zu müssen, erkennen konnte, dass er sie bereits besaß oder für zu unspeziell erachtete, wobei er letzteres zumeist an der Popularität eines Werkes festmachte, zu bekannt war für ihn zu unspezifisch und zu gemein.
Er schaute dem dicklichen jungen Mann nicht direkt in die Augen und dachte sich, dass dieser ihn sicher nicht erkannte, obwohl er bereits unzählige Male etwas an seinem Stand erworben hatte. Dieses auch für ihn zeitweilig als eingebildet erkannte Gefühl von „nicht beachtet werden“, versuchte er früher durch exzentrische Kleidung abzuschwächen, aber der fahle Nachgeschmack eines Blickes, der an einer auffälligen Jacke und nur sehr kurz an seinem Gesicht hängen blieb, brachte ihn bald zu einem dezenteren und sehr distinguierten, im Detail besessenen Kleidungsstil, der durch und durch von der Idee der Siluettenperfektionierung und des Materialkomforts bestimmt wurde. Polohemden aus marcerisierter Baumwolle mit Perlmutknöpfen, Anzüge die maßgenau saßen oder zumeist Jeanshosen, die sein Gesäß betonten, mit Jackets, die hinten oder besser seitlich geschlitzt waren und einreihig geknöpft wurden, also ganz à la mode. Bartók Einspielungen gab es hier gar nicht, obwohl das „Konzert für Orchester“ heute gespielt wurde.
Er hatte bevor er in die Eingangshalle schlenderte vor dem Eingang noch ein wenig das Schaufenster des überteuerten Wohnobjektegeschäftes betrachtet und versucht seine Siluette im Schaufenster zu erhaschen, dies auch, weil eine Sitz und Passkontrolle im Konzertsaal erfahrungsgemäß unangenehm wurde sobald jemand die mit Spiegeln ausgestatte WC Anlage betrat und das geschah selbstredend vor dem Konzert ständig, ganz zu schweigen von der großen Spiegelwand im Foyer, direkt links hinter dem CD Verkaufsstand, in der ein Blick auf sich selber zu peinlichem Erröten führen musste, fand er sich doch im ersten kurzen Augenblick stets extrem unattraktiv und benötigte einige Zeit um sich annehmbar zu finden und dass immer unbeobachtet, was in diesem Foyer unter all diesen Besuchern selbstverständlich unmöglich war.
Er fragte sich, ob seine Geliebte Gefallen an einer neuen, anderen Armbanduhr finden würde. Wäre sie in der Lage die jetzige sehr kostbare, ein Geschenk ihrer Mutter zum achtzehnten Geburtstag, seiner Meinung nach eine Verlängerung der Nabelschnur, durch eine andere Uhr auch nur gelegentlich zu tauschen, gewissermaßen diese zu Organ gewordene Metallspange amputieren und und in einer Frischhaltebox im Kühlschrank für zumindest wenige Stunden auskühlen zu lassen? Sie trug diese Uhr sogar beim Geschlechtsakt, jedenfalls, wenn sie mit ihm schlief und beim Blick ins Schaufenster versuchte er sich ihren nackten Körper mit einer der ausgestellten Uhren vorzustellen.
Ihre haarloser Haut würde durch das neue Schmuckstück unmittelbar verändert aussehen, aber ihre Stilsicherheit ließ nur sehr gelegentliche Ausrutscher ins Ungewisse zu und diese nur einmal, weil ihr Gespür für das eigene Erscheinungsbild sie nicht lange im Stich ließ. Es war dabei nicht ihr Geld, sondern tatsächlich ihr gutes Gefühl, wie sie ihren lasziven, leicht kantig wirkenden Körper besonders unterstreichen konnte. Dabei unterschätze er allerdings den Einfluss, den ihre Freundinnen zu Hause auf sie hatten, dort wußte man einfach, was man anziehen konnte und die Kenntnis über die richtigen Geschäfte, mit denen die richtigen Marken angeboten wurden, wurde gewissermaßen in einem langjährigen Sozialisationsprozess vermittelt.
Bei ihr zu Hause würde diese Gabe kaum Aufsehen erregen, war es doch eine standesgemäße Fähigkeit, die man erwarten konnte, wenn man sich sicher in der Gesellschaft bewegen wollte.
Hier, eintausend Kilometer nördlicher, fiel es auf, man nahm sie wie eine Reisende war, die sich nur kurz aufhalten wollte um bald wieder in die Ferne zu fliegen.
Er drehte sich wieder dem Haupteingang zu und schritt energisch auf die geöffneten Glastüren zu.
Es ertönte schon das zweite Mal die Fanfahre, welcher zum Einnehmen der Sitzplätze gemahnte.
Vorbei an den Spiegelwänden, dem dicken Studenten am CD Stand, ins Untergeschoss, an den Garderoben und ihren gelangweilten Mitarbeitern vorbei, die er nur in äußerster Not im Winter bei großer Kälte nutze, vorbei an der Programmverkäuferin, die nie genug Wechselgeld hatte und die er links liegen ließ, er besaß hunderte dieser überteuerten Heftchen und langweilte sich meist mit ihnen, gelang es doch höchst selten, dass ihm jemand etwas Neues oder Überraschendes über eine Komposition oder einen Interpreten zu vermittelt wüsste oder grundsätzlich seine Aufmerksamkeit zu fesseln und nicht seinen Blick durch den Saal schweifen zu lassen, war es doch viel zu interessant vor dem Konzert und nachher in den Pausen die Leute zu beobachten, welche meinten sie müssten die Konzentration echter Liebhaber der Musik durch ihre bloße Anwesenheit stören...
Er saß im oberen Drittel des mittleren Blocks, er hatte den Platz für dieses Konzert bewusst gewählt, man hatte von dort aus einen guten Blick auf die Bühne und das gesamte Orchester, bei diesem Programm wohl in großer Besetzung, die Musikeremporen waren komplett und bis auf den letzten Platz mit Stühlen und Notenständern bestückt. Bartóks Komposition verlangte nach dem kompletten Aufgebot an Becken und Trommeln.
Die Reihe füllten sich wie stets erst nach der dritten und letzten Fanfare gänzlich, ein Verhalten, das sich erst in den letzten Jahren entwickelt hatte, war man doch in seiner Wahrnehmung früher schon nach der ersten Aufforderung in einen halbwegs gefüllten Saal gekommen und nach dem dritten Signal kamen dann nur abgehetzt Verspätete.
Das Konzert war laut Leuchtreklame am Eingang ausverkauft. Ein paar Stehplatzbesitzer suchten trotzdem in den Reihen nach freien Plätzen und wurden wie immer auch fündig, schließlich gab es unverständlicherweise immer einige Abonnement Inhaber, die ihre Karten verfallen ließen. Sein Interesse galt nun sehr den direkt um ihn herum Sitzenden, jenen also, mit deren Verhaltensweisen er während des Konzertes unweigerlich konfrontiert sein würde. Wenn sie sich ruhig und entspannt hinsetzten, nicht sprachen, nicht über ein Meter fünfundachtzig groß waren, nicht stanken, sich nicht im Rhythmus der Musik bewegten und wenn sie keine Kinder waren, dann mochte er sie. Er hatte leider schon unerträgliche Sitznachbarn erlebt, die sich wie die Vandalen aufgeführt hatten ohne selbstredend zu wissen was ein Vandale sein könnte. Kinder in klassischen Konzerten waren der Alptraum seiner schlaflosen Nächte und dies korrespondierte auch mit seiner Abneigung gegen eigene Kinder und den womöglich noch aufkommenden Kinderwunsch seiner Geliebten, wusste er doch, dass Frauen früher oder später doch an Kinder dachten. Sie wollte derzeit sicherlich keine, aber die italienische Familie würde sicher einmal einen Statthalter wünschen, nun gut, den wollte er nicht zeugen, auch nicht, wenn sie dabei eine andere Armbanduhr tragen würde. Im allgemeinen mochten Kinder ihn gerne, weil er sie wie Erwachsene behandelte und in jeder Hinsicht ernst nahm.
Er mochte sie wenn sie still, introvertiert und hübsch waren, wenn sie kluge Fragen stellten und nicht laut wurden, wenn sie sich nicht schmutzig machten und wenn sie sich nicht zu hektisch bewegten.
Kinder in ein klassisches Konzert mitzunehmen, das war eine echte Misshandlung für alle, insbesondere auch für die Kinder, welches Kind sollte denn so etwas aushalten ohne all das zu machen, was jeden in der Nähe Sitzenden in eine terroristische Haltung zu bringen und insbesondere die begleitenden Erwachsenen in ein Arbeitslager unter Erleidung der schlimmsten Qualen zu wünschen.
Zu seiner Rechten nahm eine Frau in den Fünfzigern Platz, die in einen cremefarbenen Hosenanzug gekleidet war und dazu eine weiße Bluse mit vielen Perlen als Kette trug.
Sie hatte eine starke Brille auf, so ein wenig wie die Knef in den Achtzigern, etwas zu viel Maskara inklusive. Vor ihm gab es nur Durchschnitt, mehr die Ausstrahlung wie schick gemachte Landpommeranzen oder die totale Durchschnittlichkeit schlechthin... und zu seiner linken blieben zwei Plätze unbesetzt, dann folgte ein ziemlich dicker Mann im fortgeschrittenen Rentenalter, dessen grauer Anzug über dem Hosenbund dem Bersten nahe war. Der Platz direkt neben ihm blieb erwartungsgemäß leer, hatte er doch die zweite Karte erworben, bevor er sich entschlossen hatte alleine in dieses Konzert zu gehen und auf die Begleitung durch irgend einen Freund oder Bekannten zu verzichten. Er hatte dies schon häufiger getan, in dem Bestreben nicht alleine an einem erhebenden Kunstgenuss teilzunehmen, sondern die Möglichkeit zu haben sich darüber austauschen zu dürfen, was dann aber in den meisten Fällen ein Fiasko gewesen war, da die meisten Begleitungen in den Pausen unbedingt ein Getränk zu sich nehmen wollten und dabei durch die Pausenräume wandeln wollten, um sich die Beine zu vertreten oder andere, ihm völlig unverständliche Dinge, zu tun. Er blieb in den Pausen grundsätzlich sitzen und dachte unter allen Umstände nicht daran für andere seine Verhaltensprämissen zu ändern. Dies auch nicht, wenn er während des ersten Teiles entschieden hatte, dass es besser war in der Pause zu gehen, weil er sich mal wieder nicht konzentrieren konnte und ständig an den dringlich zu putzenden Bodens seines Studios denken musste oder Hayden mal wieder puren Hörfrust bei ihm auslöste, weil er nicht begriff wieso diese in Noten gefasste Langeweile erhebende Kunst sein sollte. Bestimmte Veranstaltungen machten ein verfrühtes Gehen, also mindestens ab der Pause, geradezu notwendig, gab es doch Veranstaltungen, die trotz oder gerade wegen eines regen Zuschauerzuspruches und einer durchaus professionell daher kommenden Vermarktungskampagne absolutes Platzkonzertniveau besaßen und diese im Vorhinein so gut zu kaschieren wussten, dass er dann nach erfolgtem Reinfall nur noch sehr schnell das Weite suchen konnte. Wer rechnet auch damit, dass in einer städtischen Philharmonie die Brandenburger Konzerte wirklich falsch und das heißt nicht nur schlecht gespielt werden oder dass die Filmuraufführung eines weltbekannten amerikanischen Künstlers ein desaströser Flopp wurde, bei dem er erstaunlicherweise der einzige war, der nach dem ersten Teil den Saal verließ und am Ausgang vom Personal noch entgeistert angesprochen wurde, weil er keine Pausenkarte entgegennehmen wollte, die den Besuchern einen kurzen Aufenthalt im Freien erlaubte, sondern bereitwillig und laut darüber Auskunft gab, dass er zu einer solchen Schundveranstaltung nicht mehr zurückkehren wolle. Solch Vorkommnisse waren aber erfreulicherweise sehr selten und galten für ihn als Betriebsunfälle, die wohl in einem solch großen Kulturbetrieb von Zeit zur Zeit auftreten dürfen ohne damit gleich alles in Verruf bringen zu können.
Er wollte sich nicht verantwortlich fühlen für andere, die anders dachten und fühlten als er selbst, war er doch davon überzeugt, dass seine Empfindungen auf einer Entwicklungsskala der kulturellen menschlichen Vervollkommnung sicherlich viel weiter oben standen, als die vieler anderer Zeitgenossen.
Beim Betrachten der Dame in Creme steckte er seine Hand in die Hosentasche und fand irritiert einen von ihm geschriebenen Zettel, den er zerknüllt eingesteckt zu haben schien.
Er strich das Papier glatt und las die von ihm verfasst Liste sehr giftiger einheimischer Pflanzen: Tollkirsche (Atropa belladonna L.); Roter Fingerhut (Digitalis purpurea L.); Gepfleckter Schierling (Conium maculatum L.); Herbstzeitlose (Colchicum autumnale L.), Blauer Eisenhut (Aconitum napellus L.); Schwarzes Bilsenkraut (Hyosyamus niger L.); Safrangelbe Rebendolde (Oenanthe crocata L.); Stechapfel (Datura Sramomium L.); Lorbeerseidelbast (Daphne laureola L.); Spanischer Ginster (Spartium junceum L.)
Er hatte all diese Pflanzen gefunden, ihre Eigenheiten auswendig gelernt und war nun vertraut mit ihren Fruchtständen, ihren Blüten und ihren verwertbaren Teilen geworden.
Er steckte den Zettel wieder ein. Die Dame in Creme hatte ihre dicke, sehr große Brille abgenommen und an einer Kette hängend auf ihrem Decolté abgelegt, so dass man ihre Halsfalten durch die aufrecht stehen Gläser deutlich vergrößert, wie zwei Fenster rechts und links auf ihrem Busen stehend, sehen konnte.
Ihre Wimpern waren, wie bei vielen Frauen über fünfzig, etwas von der Wimperntusche verklebt, weil sich die feinen Härchen nach den Wechseljahren manchmal in unterschiedliche neue Richtungen verbogen und dann nicht mehr so leicht zu färben waren. Es gab ihnen stets das etwas lädierte Aussehen, welches junge Frauen nach einem Weinkrampf hatten, nur dass man es in ihrer Altersklasse für gewöhnlich und nicht sonderbar hielt. Die Brillenkette hatte sich mit der mehrreihigen Perlenkette verwirbelt, so dass eine Reihe in Richtung zu rechten Schulter etwas in der Luft schwebte, da die Brillenkette aus transparenten Kunststoffgliedern zu sein schien und unter den Perlen nicht mehr zu sehen war.
Er erinnerte sich daran, gelesen zu haben, dass die Einwohner Polynesiens große Tahitiperlen zermalten, um das daraus gewonnene Perlmutpulver als Aphrodisiakum oder Heilmittel mit Honig einzunehmen. Heilsame Dinge sind kostbar, haben aber wenig mit unserem Glauben an Dauerhaftigkeit von Preziosen zu tun, ihr Wert kulminiert im richtigen Moment der Einnahme, der Augenblick, der Kontakt, die Berührung, wie Musik, sie entsteht einzigartig und unwiederrufbar, sie ist stets Moment der in eine Zukunft weist.
Die Musiker betraten den Bühnenraum und das geschmacklos gekleidete Saalpersonal schloss die Türen. Zuspätkommende würden einzig noch den dafür vorgesehenen Balkon betreten dürfen und auch nur an Stellen der gespielten Musik, die ein Öffnen der Türen vertretbar machten. Eine Regelung die sehr im Einklang mit seiner Auffassung von der Würde des Augenblickes übereinstimmte. Wer zu spät war, den bestrafte nicht das Leben, sondern der Augenblick. Die Musiker nahmen ihre Plätze ein. Das etwas unbestimmt anmutende Rücken der Stühle, das Zerren und Ruckeln an den Instrumenten wurde bald vom Aufstehen des ersten Violonisten beendet, der den Ton zum Einstimmen vorgab.
In dieser Besetzung und bei diesen Instrumenten nicht von ganz so manifester Bedeutung, wie bei den von ihm so heiß geliebten Barock oder gar Renaissance Ensembles, die mit Originalinstrumenten nach jedem Stück neu Einstimmen mussten, da die Instrumente aus material- und bautechnischen Gründen sich nach kurzer Zeit erneut gedehnt oder verkürzt hatten.
Das Orchester beruhigte sich innerhalb einer Minute wieder und der Dirigent betrat die Bühne, Applaus kam auf, er verbeugte sich, dankbar und kehrte dem Publikum den Rücken zu. Er betrat eine Art kleine Empore, mit einer Absprerrstange im Bereich des Rückens, verchromt, passend zur Inneneinrichtung des Gesamtinterieurs. Der Boden der Empore war mit rotem Teppichboden beschlagen. Er hob die Arme und begann mit bloßen Händen, ohne Taktstock zu dirigieren. Die Musik setzte leicht zeitversetzt ein und überschwemmte den Konzertsaal sofort mit ihrer immensen Kraft, wie ein Strom, der den Rauminhalt an jeder Stelle gleichzeitig elektrisierte. So etwas hatte er schon einmal visualisiert in einer Art Science Fiction Film gesehen, in dem in der Luft sich sanft, aber sehr schnell bewegende funkenartige Gebilde fast überall gleichzeitig wie Vogelschwärme herumflogen. Sie bildeten wie diese buketartige Gebilde, die in immer neue Richtungen schnellten und deren Knospen erneut zu Blüten aufbrachen.
Er kannte jeden Ton, der nun gespielt wurde auswendig. Er verkrampfte sich ein wenig, in der bangen Erwartung, etwas könnte sich anders anhören, als er es für angemessen hielte. Nach wenigen Minuten war der Bann aber gebrochen, er wusste nun, dass dieses Orchster, eine Interpretation spielte, die er interessant und überrraschend finden würde, selten hatte sich herausgestellt, dass der erste Eindruck dann doch noch in eine Enttäuschung führen konnte.