minuten werden zu wochen und sekunden zu tagen – deine augen schauen mich an, wenn ich morgens erwache und unschlüssig bin, ob es einen sinn zum aufstehen gibt traurigkeit muss man erst zulassen und dann wird man sie nicht mehr los, so wie diese augenringe, die seit deinem verschwinden zu meinen stetigen begleitern geworden sind ich bin nicht zeitlos auch wenn ich außer dem lichtwechsel keine wirkliche vorstellung habe, warum weihnachten im winter sein muss
tage werden zu sekunden und wochen zu minuten – wenn ich spüre, dass du bei mir bist und dein atem mein gesicht berührt, so warm, dein geruch, deine festen hände dein schlanker körper, die haare auf der brust und der blonde flaum auf deinen armen, da möchte ich dich küssen von kopf bis fuß, keine stelle auslassen und alles erkunden dich drücken vor verlangen und vor sehnsucht nach noch mehr, ein versprechen und ein nicken, der glaube an das morgen nur mit dir
warten, ein geduldsspiel was die füße fesselt und den geist beflügelt – unsere gedanken segeln wie schwalben durch die luft, sommermilde mit sturmböhen und windstille gewitterdonner und auferstehung aus dem morgentau als wollte aus der liebe eine pflanze sich zum zenith erheben, hell umstrahlt das licht nur uns, denn jede liebe existiert nur aus sich selbst und für den einen den wir lieben
wie ein kleiner dummer singvogel fliegst du mit voller wucht gegen die glasscheiben, deren falkenförmige aufkleber du selbst erst kurz zuvor mit dem hinweis auf ihre schwarze hässlichkeit entfernt hattest die wucht des aufpralls auf die scheibe war so erheblich, dass ein überleben mit querschnittlähmung undenkbar gewesen wäre, aber so liegst du mit deinem schönen kleinen singvogelköpfchen voller dunklem blut, welches zwischen deinen kleinen, flauschigen federn hervorquillt, auf der fensterbank aus italienischem marmor, den deine mutter auf einer reise nach sizilien, die eigentlich nur erfunden gewesen ist, so lieben gelernt hatte, dass du dich genötigt sahst, das ganze haus mit diesem schreiend bunten steinen zu verschandeln – so, dass kein mensch das nun zur zwangsversteigerung angebotene gebäude erwerben will: «mausoleum»
wären wir zusammen weitergeflogen, hoch in der blauen luft, so sanft zu zweit, so leicht, wenn du nicht gestorben wärst? die weissen seelen der glücklichen, die nicht an morgen denken, weil sie beginnen würden sich aufzulösen, wenn man ihre erlösungsformel gemurmel hätte: «mutabor»
wenn du sagst du hasst, dann meinst du das mag ich nicht, trinkst du ein bier, dann willst du dich beim saufen entspannen, danach auf die strasse gehen, die halbleere flasche in den vollgepissten treppenabgang der sbahn werfen, dort schläft seit dem winterbeginn ein grauhaarige penner, der früher einmal künstler war und eine fotomodell als freundin hatte
wenn du sagst ich vermisse dich, holst du dir einen runter, dann fühlst du wie alt du geworden bist, der sozialarbeiter in deiner einrichtung hält ein paar canarienvögel auf dem fensterbrett des speisesaals, dort isst du dein halbes hänchen und beschwerst dich beim koch über die halbrohen fritten, die das fett auf deiner zunge erstarren lassen
wenn du sagst du bewunderst mich, dann meinst du, ich bin besser als gar nichts, liesst du in der illustrierten, betest du ein vater unser, dann denkst du weiter an die quälenden demütigungen von früher du schreist deinen mann an, ohrfeigst deine tochter, damit die auch die möglichkeit haben zu spüren, was es heisst, in einem ausweglosen leben voller erinnerungen zu stecken
geliebt werden willst du von allen, bedingungslos, wie ritter und heldinnen, tanzend und marschierend, umringen sie dich und bilden einen festen kreis deine visage, die sich im spiegelbild mit teurem make-up verteidigen lässt, der totenschädel schimmert durch die transparente hülle des lebens, lass die wanne voll laufen, schalt den fön ein und versuch die verantwortung zu übernehmen, die dich retten könnte