Dienstag, 7. Juli 2015

märchen

wenn du sagst du hasst, dann meinst du 
das mag ich nicht, trinkst du ein bier,
dann willst du dich beim saufen entspannen,
danach auf die strasse gehen, die halbleere 
flasche in den vollgepissten treppenabgang
der sbahn werfen, dort schläft seit dem winterbeginn
ein grauhaarige penner, der früher einmal künstler war 
und eine fotomodell als freundin hatte

wenn du sagst ich vermisse dich,
holst du dir einen runter, dann fühlst du
wie alt du geworden bist, der sozialarbeiter 
in deiner einrichtung hält ein paar canarienvögel 
auf dem fensterbrett des speisesaals, dort isst du 
dein halbes hänchen und beschwerst dich beim 
koch über die halbrohen fritten, die das fett
auf deiner zunge erstarren lassen

wenn du sagst du bewunderst mich, dann meinst 
du, ich bin besser als gar nichts, liesst du in der 
illustrierten, betest du ein vater unser, dann denkst 
du weiter an die quälenden demütigungen von früher
du schreist deinen mann an, ohrfeigst deine 
tochter, damit die auch die möglichkeit haben
zu spüren, was es heisst, in einem ausweglosen
leben voller erinnerungen zu stecken

geliebt werden willst du von allen, bedingungslos, 
wie ritter und heldinnen, tanzend und marschierend,
umringen sie dich und bilden einen festen kreis
deine visage, die sich im spiegelbild mit teurem make-up 
verteidigen lässt, der totenschädel schimmert durch 
die transparente hülle des lebens, lass die wanne voll laufen,
schalt den fön ein und versuch die verantwortung
zu übernehmen, die dich retten könnte

© Hagen Rehborn 2015 

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